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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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landwirtschaftliche Geräte im Vorübergehen ganz automatisch abgetastet, mein Gehirn die Informationen so begierig gespeichert, als wollte es mir zu verstehen geben: »Ich wusste, dass du meine speziellen Fähigkeiten eines Tages wieder brauchen würdest!«
    Doch an diesem Nachmittag machte ich nicht einmal den Versuch zu entkommen. Statt der Verstecke, die ich in den letzten Wochen entdeckt hatte, war in meinem Kopf nur ein einziger Gedanke: Wenn du jetzt wieder wegläufst, wirst du nie mehr damit aufhören.
    Die Fünf waren genauso überrascht wie ich, als ich geradewegs auf sie zumarschierte. Schließlich sprang Jeremy drohend vom Brunnenrand.
    »He, Nazi! Bleib stehen!«
    »Mein Name ist Frances«, entgegnete ich mit etwas zu hoher Stimme.
    Als er direkt vor mir stand, merkte ich, dass er unsicher wurde. Vielleicht wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er einen halben Kopf größer war als ich. »Wenn ihr mich verprügeln wollt, wählt bitte nur einen von euch dafür aus«, sagte ich etwas mutiger. »Mehrere gegen einen, das machen nur die Nazis.«
    Schon an dem Blick, den sie daraufhin tauschten, konnte ich erkennen, dass sie mir nichts tun würden. »Durchsucht sie«, kommandierte der lange Carl, ihr Anführer. Ich reichte Jeremy bereitwillig meine Schultasche, den Karton mit der Gasmaske und meine Jacke. Jeremy gab sie an die anderen weiter, die sie schweigend durchsuchten, aber es war nicht zu übersehen, dass sie sich dabei ziemlich blöd vorkamen.
    »In der Gasmaske stecken auch noch Bilder«, machte ich Karen aufmerksam, die die kleine Metallkassette mit meinen Fotos geöffnet hatte.
    »Halt den Mund«, erwiderte sie unwirsch, schaute aber trotzdem nach, was ich in den Gummischlitz an der Innenseite meiner Maske gesteckt hatte.
    Ich musste beinahe lächeln, als ich sah, dass sie es gefunden hatte.
    »Wer ist das?«, fragte sie stirnrunzelnd.
    »Mein Bruder Gary. Er ist bei der Navy … aber das siehst du ja.«
    »Weg mit der Tasche!«
    Der hastige Befehl kam von Carl und als wir aufblickten, sahen wir Mrs Collins mit einer Einkaufstasche quer über den Platz spazieren. Schultasche, Metalldose, Gasmaske, der leere Karton und meine Jacke wurden mir gleichzeitig in den Arm gedrückt; ich stand da, als hätte ich ein Gebrauchtwarendepot überfallen. Die anderen drückten sich verlegen gegen den Brunnenrand.
    »Zieh die Jacke an, Frances, es ist kalt!«, rief Mrs Collins und verschwand in dem kleinen Bäckerladen.
    »Wir sind noch nicht fertig mit dir!«, zischte Carl. »Komm in einer Stunde zum Bunker!«
    »Ich versuch’s«, sagte ich. »Aber wenn ich nach Hause komme, muss ich für die Familie arbeiten …«
    »Na schön. Wir warten bis fünf. Ich kann dir nur raten, zu kommen, sonst sprechen wir uns morgen nach der Schule und das wird nicht besonders lustig für dich.«
    Ich sah ihnen nach, wie sie sich über den Platz verdrückten, dann machte ich mich im Laufschritt auf den Weg zu den Stones. Frühstücks- und Mittagsgeschirr spülen, zwei Kinderzimmer aufräumen, vielleicht ein bisschen bügeln und Gemüse putzen … bis spätestens vier Uhr war das zu schaffen. Plötzlich konnte ich es gar nicht mehr erwarten, mich mit den anderen am Bunker zu treffen!

    Der Bunker lag im Wald zwischen Tail’s End und Tail’s Mews, ein Relikt aus der Zeit des Großen Krieges und so gut versteckt, dass man ihn von Weitem für einen gewöhnlichen Hügel halten konnte. Doch gleich bei unserer ersten Gasmaskenübung hatte Mrs Collins das Geheimnis gelüftet. Im Gänsemarsch hatte sie uns quer durch das Dorf hierher geführt, die langen schwarzen Gummischnauzen vor dem Gesicht, begleitet von den fassungslosen Blicken der Einheimischen. Seitdem übte der Bunker, obwohl fest verschlossen, eine so magische Anziehungskraft auf die Jungen meiner Klasse aus, dass sich bereits zwei Banden gebildet hatten, die um das Territorium kämpften.
    Doch als ich um kurz nach vier in Begleitung von Ey-Dolf angehetzt kam, war niemand zu sehen. »Hallo? Seid ihr da?«, rief ich, ging um den Hügel herum, kletterte hinauf und schaute mich enttäuscht um. »Wo seid ihr denn? Ihr habt gesagt, ihr wartet bis fünf!«
    Mein Ruf verhallte in den Bäumen und der Wald antwortete mit einer Stille, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Nicht das kleinste Flüstern kam aus dem trockenen Laub der Baumkronen, kein einziger Vogel zwitscherte. Lediglich ein winziges Rascheln huschte in meinem Rücken vorbei und brach so abrupt ab, dass es nur eins

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