Liverpool Street
ich gerade gegessen hatte, und mit diesem Verdacht lag er möglicherweise nicht einmal falsch.
»Ich will sehen, ob ich nicht eine Scheibe Brot für dich finde, Dolf!«, murmelte ich verschwörerisch, und als hätte er mich verstanden, folgte er mir wie auf Zehenspitzen in Richtung Speisekammer.
Doch kaum hatte ich den Schlüssel im Schloss gedreht, sprang mir auch schon eine schneidende Stimme in den Nacken: »Darf ich fragen, was du da machst?«
Ich fuhr herum und sah die ganze Familie Stone in der Küchentür stehen: Mrs Stone mit verschränkten Armen und wildem Blick in der ersten Reihe, die anderen anklagend dahinter.
»Dolf hat Hunger«, sagte ich und wies auf den Hund, der sofort die Ohren herunterklappte, den Schwanz einzog und sämtliche Mitverantwortung abstritt.
»Das ist der Dank, ja?«, fragte Mrs Stone zornbebend. »Wir nehmen dich auf, wir gewähren dir Schutz und Obdach und du bestiehlst uns!« Sie packte mich grob am Ohr und zerrte mich zur Treppe. »Rauf mit dir! Eigentlich solltest du nach dem Abwasch einen Apfel und deine Briefe bekommen, aber darauf musst du jetzt wohl noch eine Weile warten!«
Ich war, nachdem sie mir einen entsprechenden Schubs versetzt hatte, schon ganz freiwillig einige Stufen nach oben gestolpert, aber jetzt fror ich beinahe an der Treppe fest. »Meine Briefe …?«
Mrs Stone lächelte boshaft, ging zu der kleinen Kommode neben der Treppe und schloss sie auf. Sie holte drei Umschläge heraus und hielt sie triumphierend in die Höhe, und sie hielt die Briefe immer noch in der Hand, als etwas passierte, was die Stones nie mehr vergessen würden. Sie würden an jedem einzelnen Tag daran denken, an dem ich bei ihnen war, und vielleicht selbst dann noch, als der Krieg längst hinter uns lag.
Wann immer sie sich an den Krieg erinnerten, würden sie noch einmal diese kleine Person in der Mitte ihrer Treppe stehen sehen und es würde keine Rolle spielen, dass es nur ein elfjähriges Mädchen gewesen war.
Woran sie sich alle erinnerten, würde nur die Kälte sein, mit der es auf sie herabgesehen, und die ruhige Stimme, mit der es gesagt hatte: »Wenn Hitler in England einfällt, wird er auch die englischen Juden jagen. Dann kommt Ihr Mann ins Konzentrationslager, Mrs Stone, Sie verlieren Ihr Haus und alles, was Sie besitzen, und wenn Sie jemals, wie meine Eltern, Ihre Kinder fortschicken müssen, um sie zu retten, dann werden sie bei Leuten landen, die ihnen die Abfälle vom Tisch zu essen geben und die Briefe verstecken, die Sie ihnen schreiben!«
Mrs Stone griff sich an den Hals, Angst und Entsetzen flackerten wie ein wilder Schatten über ihr Gesicht, doch da drehte ich mich bereits um und ging die Treppe hinauf. In meinem Rücken war keine einzige Bewegung. Sie standen da, Eltern wie Kinder, und rührten sich nicht. Beim Zähneputzen fragte ich mich, ob ich sie vielleicht gerade verflucht hatte, doch ich spürte kein Mitleid. Von mir aus konnten sie am nächsten Morgen noch dort stehen.
Aber als ich ins Kinderzimmer kam, lagen die drei Briefe auf Rachels Bett. Sie lagen so da, als seien sie voller Hass dort hingeschleudert worden und ich erkannte, dass die Stones und ich einander nie verzeihen würden. Doch von nun an würden sie mich weder bestehlen noch hungern lassen. Nie mehr würden sie vergessen können, warum ich bei ihnen war.
Hallo, Schatz, heute ist Sonntag, der 3. September, und seit einigen Stunden ist es so weit: England und Frankreich haben Deutschland den Krieg erklärt, die Mobilmachung ist in vollem Gange. Ein kleiner Trost für uns – Gary wäre also ohnehin eingezogen worden! –, aber eine unendliche Sorge für alle Freunde und Nachbarn, deren Söhne es nun trifft. Millie kam gestern, um sich zu verabschieden, sie geht zu ihrer Tochter nach Kent und hat richtig geweint, als sie dich nicht mehr antraf!
Wie geht es dir, Liebes? Wir denken ständig an dich. Dauernd fällt mir etwas ein, was ich unbedingt Frances erzählen muss, wenn sie aus der Schule kommt, und erst dann merke ich – du bist ja gar nicht mehr da! Das Haus ist so still. Hoffentlich ist das Ganze schnell vorbei. Ungeduldig erwarte ich die Postkarte mit deiner Adresse, um diesen Brief abschicken zu können – wo bist du wohl gelandet? Von deiner Mamu kam noch nichts, aber ich lasse es dich natürlich sofort wissen. Es vermisst und umarmt dich deine »Tante« Amanda.
London, 7.September. Liebe Ziska, gestern hat Dr.Shepard mir endlich deine neue Adresse ins Kino
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