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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Seite meines Briefblocks beschreibend. Doch ich schrieb weder an Mamu, die mich nach meinem Empfinden verraten, noch an Amanda, die nicht einen Augenblick um mich gekämpft hatte. Ich schrieb an Bekka, eine Freundin, wie ich sie nie wieder finden würde, und ich schrieb, als hätte ich nur noch diese eine Gelegenheit, das zu tun.
    Wie hätte ich es wissen können? Mein Brief wollte einfach kein Ende nehmen. Nicht, dass ich darin besonders schöne oder passende Worte fand. Ich erzählte, was in den letzten Tagen passiert war, schilderte die Evakuierung, den Fluchtversuch, die Wyckhams und die Stones. Ich tröstete uns beide damit, dass es mit dem schönen Leben bei den Shepards ohnehin nichts geworden wäre und ihr nun immerhin die Stones erspart blieben. Ich erzählte von Hazel, vom Schulunterricht auf der Dorfwiese, vom Ausflug mit Ey-Dolf.
    Aber ich gestand auch, was ich, seit ich in England war, oft getan hatte und auch in Zukunft tun wollte, wann immer ich etwas Wichtiges zu entscheiden hatte: Ich wollte daran denken, was Bekka an meiner Stelle getan hätte – und es dann genauso machen!
    Ob ich ihr geschrieben habe, dass sie mir dann wie die andere Seite meiner selbst vorkam – die mutigere, klügere, liebenswertere Seite –, weiß ich nicht mehr. Vielleicht hoffe ich auch nur, dass ich es ihr gesagt habe. Ganz sicher habe ich es seitdem immer wieder gedacht.
    Meine Mutter leitete meinen Brief von Holland aus weiter und er kam nicht an sie zurück, Bekka muss ihn also noch bekommen haben. Was danach geschah, werde ich wohl nie erfahren. Vielleicht hat sie den Briefumschlag mit Mamus Adresse verloren und mich daraufhin nicht mehr erreichen können.
    Es verging kein Tag, an dem ich nicht auf ihre Antwort wartete.

13
    Je erfolgreicher der Krieg sich auf deutscher Seite gestaltete, desto feindseliger wurden die Blicke meiner Klassenkameraden. Noch im September fiel Warschau und marschierte die Rote Armee ebenfalls in Polen ein, Anfang Oktober drang die Nachricht von der endgültigen polnischen Kapitulation an unser Ohr. In Tail’s End waren es vor allem fünf Kinder, denen ich lieber aus dem Weg ging: vier Jungen und ein Mädchen namens Karen.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aufgegeben, über das Warum nachzusinnen. In Deutschland war ich als Jüdin beschimpft worden, in England waren mir Menschen begegnet, denen ich nicht jüdisch genug war, und nun, da alle meine Verbindungen nach Deutschland gekappt waren, sollte ich plötzlich sein, was die Nazis mir mein Leben lang abgesprochen hatten: deutsch! Ich fragte mich, was Richard Graditz wohl dazu gesagt hätte. Wenn ich mir sein dummes Gesicht vorstellte, hätte er von meinem neuen Status gewusst, empfand ich fast so etwas wie Schadenfreude. Aber leider war dies auch das Einzige, was ich der Sache abgewinnen konnte.
    Immerhin wagten meine neuen Mitschüler nicht, mich während des Unterrichts oder in Gegenwart von Mrs Collins zu behelligen. Es war der Weg nach Hause, auf dem ich mich in Acht nehmen musste, und je intensiver sich die Blicke meiner Klassenkameraden im Laufe des Oktobers auf mich richteten, desto dringlicher wurde mir bewusst, dass ich nach Unterrichtsende gut daran tat, gleich als Erste zu verschwinden.
    Unser Unterricht fand mittlerweile in einem Nebenraum der Kirche statt, wo man Stühle und einige wenige Tische organisiert hatte. Meist saß ich neben Hazel, nach wie vor der Einzigen, die dazu bereit war; nur während einer Gasmaskenübung war ich einmal für zwei Stunden neben Emma gelandet, weil die mich nicht gleich erkannt hatte.
    Der schon ziemlich zerbeulte Karton mit der Gasmaske schlenkerte auch an dem Tag vor meiner Brust, als meine Strategie zum ersten Mal nicht aufging: Mrs Collins hatte einen Klassenraumdienst eingeteilt, irgendwann musste es mich treffen und nachdem ich die Tafel gewischt, den Papierkorb geleert und die Stühle ordentlich hingestellt hatte, ahnte ich bereits, was mich erwartete, sobald ich den Kirchhof verließ. Die Fünf, wie ich sie im Stillen nannte, hockten auf dem Rand des Dorfbrunnens, hatten die Straße bis hinunter zur Weggabelung nach Tail’s Mews im Blick und brauchten nur zu warten, bis ich ihnen in die Arme lief.
    Survival Plan, dachte ich … und war überrascht von meinem Zögern.
    Denn es war ja beileibe nicht so, dass ich nicht schon den einen oder anderen Fluchtweg und dieses oder jenes Versteck auskundschaftet hatte! Mein geübtes Auge hatte Hecken und Holzstapel, Gruben und

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