Liverpool Street
Bekka gehörte.
Dein Vater ist tot, deine Mutter in einem anderen Land, und du lachst!
»Meine Mutter will, dass ich lache«, verteidigte ich mich. »Sie schreibt, ihre einzige Freude sei zu wissen, dass es mir gut geht!«
Aber ich wette, sie hat keine Ahnung, wie gut!
Ich versuchte Bekka zu erklären, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, dass ich einen herrlichen Tag verbringen und trotzdem nachts Tränen um meine Mutter vergießen konnte.
Dass meine Gefühle niemanden etwas angingen!
Darf man denn das Leben ohne seine Eltern gutfinden, Ziska?
»Ich kann doch gar nichts dagegen tun! Und vergiss nicht, dass es jeden Tag vorbei sein könnte mit der Freude, denn wir haben immer noch Krieg …«
Und darauf hatte sie noch keine Antwort.
Freitags und samstags blieb das Elysée wegen des Schabbats geschlossen. Walter besuchte seinen Vater, Amanda und ich gingen spazieren, lasen, hörten Schallplatten und Radio. Irrte ich mich oder war sie weniger streng als früher? Es mochte an der Rationierung liegen, dass es in unserer Küche großzügiger zuging; schließlich musste man nehmen, was es gab, auch wenn der Salat nicht ganz so sauber war. Auch das elektrische Licht löschten wir jetzt selbst.
Ich schlief weiterhin in Onkel Matthews Bett. Ob sie ihm das erzählt hatte? Die beiden schrieben sich, aber Amanda redete nicht darüber. Wahrscheinlich ging es ihr wie mir und es waren einfach zwei völlig verschiedene Dinge: dass es ihr Spaß machte, zusammen mit Walter und mir das Kino zu betreiben, und sie dennoch verletzt und enttäuscht von Onkel Matthew war. Dass ich mein Leben in England liebte und trotzdem meine Mutter vermisste. Dass wir nicht darüber redeten, während des Tages vielleicht nicht einmal daran dachten, und trotzdem war »es« immer da.
Und als das passierte, womit wir insgeheim schon lange rechneten, war ich zu verwirrt, zu ratlos, um mit etwas anderem zu reagieren als mit denselben Schritten wie an jedem anderen Tag. Am 10. Mai überfielen die Deutschen Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich und meine Fantasie reichte nicht aus, um irgendetwas zu erkennen außer den unmittelbaren Folgen: dem Zusammenbruch meines Briefverkehrs mit Mamu und der Sorge, dass Onkel Matthews Fronttheater sich nun tatsächlich an der Front befand.
Wie hätte ich ahnen können, was es sonst noch bedeutete? Ich ging zur Schule, fuhr danach zum Elysée , wir aßen zu Mittag und lauschten dem aufgeregten Austausch von Nachrichten im Koscher-Deli . Viel geredet haben wir nicht, und die Wochenschau, die wir an diesem Tag zeigten, war noch nicht auf dem neuesten Stand. Mich beruhigte das: Was nicht zu sehen war, konnte so schlimm nicht sein!
Noch am selben Tag bekamen wir einen neuen Premierminister und hörten zum ersten Mal die Stimme, die uns von nun an durch den Krieg begleiten würde: »Ich habe nichts anzubieten außer Blut, Arbeit, Tränen und Schweiß. Ihr fragt, was unsere Politik ist? Ich sage, sie heißt Krieg führen, zur See, zu Land und in der Luft, mit aller Macht und aller Kraft, die Gott uns zu geben vermag; Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Tyrannei, die in dem düsteren und beklagenswerten Katalog menschlichen Verbrechens unübertroffen bleibt.«
»Gelobt sei Gott«, murmelte Amanda, das Ohr am Radio.
»Ich habe das sichere Gefühl«, sagte Winston Churchill und ich glaubte ihm auf der Stelle, »dass unsere Sache nicht zum Scheitern verurteilt sein wird unter den Menschen.«
Ich erkannte den bleichen, kräftigen Mann sofort, obwohl ich Walters Vater erst ein einziges Mal gesehen hatte. Von meinem Platz an der Saaltür konnte ich beobachten, wie er mindestens eine Minute unruhig auf dem Bürgersteig vor der gläsernen Eingangstür auf und ab lief, bis er sich endlich entschloss, hineinzukommen.
»Vielen Dank … viel Spaß …« Automatisch riss ich Karten ab und sprach meine Sätze, das Foyer im Blick. Walters Vater reichte Amanda einen Briefumschlag ins Kassenhäuschen, beugte sich ruckartig vor und legte den Kopf schief, als hörte er zu. Dann hob er beide Arme in einer weit ausholenden, resignierenden Geste und ließ sie wieder fallen.
Die Tür zum Kassenraum ging auf und Amanda stürzte heraus. Ihr Gesicht war kreideweiß. »Das muss ein Irrtum sein«, hörte ich sie sagen, nicht einmal, sondern zweimal, dreimal, als würde es nur dadurch wahr, dass sie es wiederholte. Den Umschlag in Händen, kam sie auf mich zu, doch ihr Blick ging direkt durch mich hindurch und
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