Liverpool Street
noch bevor ich sie die Treppe zum Vorführraum hinauflaufen sah, begriff ich, dass etwas mit Walter sein musste.
Einige Minuten vergingen. Ich riss Karten ab, Walters Vater stand mitten im Foyer und starrte ins Nichts. Besucher schlenderten durch die Tür und blieben überrascht an der Kasse stehen, wo niemand sie erwartete. Als die Wochenschau begann, kam Amanda mit Walter die Treppe herunter. Walter hielt den Umschlag in der Hand. Er sah vollkommen verblüfft aus.
»Ja, Junge, es ist wahr«, sagte sein Vater unbeholfen auf Deutsch. »Wir gehen auf Transport.«
»Ich glaube das einfach nicht!«, murmelte Amanda. »Bitte warten Sie, Herr Glücklich. Bestimmt haben wir das gleich geklärt.«
Sie nahm Walter den Brief aus der Hand und lief ins Büro. Die Leute, die an der Kasse warteten, tauschten besorgte Blicke. Offenbar merkten jetzt auch sie, dass etwas nicht stimmte. Die beiden Glücklichs standen mit hängenden Schultern da und sahen sich hoffnungslos an. Ich musste an die Juden denken, die ich damals in Berlin aus den Konsulaten hatte kommen sehen.
»Was ist denn?«, fragte ich entsetzt.
Aber niemand antwortete. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und folgte Amanda ins Büro, wo ich erwartete, sie am Telefon vorzufinden, energisch unsere Angelegenheiten regelnd, alle Probleme lösend, wie immer.
Doch meine Pflegemutter stand wie erstarrt neben ihrem Schreibtisch, die Hand auf dem wieder aufgelegten Hörer. Es war das erste Mal, dass ich sie je weinen sah, und der Anblick traf mich härter als alles, was in den letzten Monaten über uns hereingebrochen war. »Ich entschuldige mich, Frances«, flüsterte Amanda und umarmte mich mit einer Kraft, aus der pure Verzweiflung sprach. »Ich entschuldige mich für mein Land …«
Walter und sein Vater fanden sich bald darauf mit ihren spärlichen Gepäckstücken am Bahnhof ein, wo sie in einer großen Gruppe deutscher und österreichischer Frauen, Männer und Jugendlicher in bereitstehende Personenzüge kletterten. Aus dem ganzen Land fuhren diese Züge in Internierungslager wie Huyton, Douglas und Port Erin auf der Isle of Man, aber auch an den Pier in Liverpool, wo die »feindlichen Ausländer« in den stickigen Frachtraum eines Schiffes gepfercht wurden. Nach qualvollen Monaten auf See erreichten sie Australien, Neufundland oder Kanada.
Immerhin: Diese Tortur blieb den Glücklichs erspart. Auf der Isle of Man trafen sie Umstände an, die Walters Vater im Vergleich zu seiner Unterkunft im East End wie Luxus vorkommen mussten. Zwar arbeiteten sie auch dort in einer Schneiderei, doch bald gab es eine Bibliothek, Musik und Kunst, und da viele Intellektuelle unter den Flüchtlingen waren, sogar Vorlesungen. Die Lagerinsassen durften Pakete erhalten und wöchentlich zwei Briefe schreiben. Wäre nicht der hohe Stacheldraht gewesen, der sie gemeinsam mit überzeugten Nazis auf demselben Gelände gefangen hielt, hätten sich die internierten Juden fast einbilden können, sie seien in einem Erholungsheim.
Für Amanda war Walters Internierung ein Wendepunkt – nicht nur des Krieges, sondern ihres ganzen bisherigen Lebens als gehorsame Hausfrau. Sie hatte weder ihren Sohn daran hindern können, in den Krieg zu ziehen, noch ihren Mann von einem Abenteuer abgehalten, das sich in diesen Tagen zu einem lebensbedrohlichen Unternehmen entwickelte. Doch dass ein Sechzehnjähriger, der ihrer Obhut anvertraut worden war, ihr entrissen und unter Spionageverdacht gestellt wurde, machte das Maß voll. Buchstäblich über Nacht gelangte meine Pflegemutter zu der Überzeugung, dass sie lange genug stillgehalten hatte.
Es war, zumindest auf meiner Seite, eine äußerst tränenreiche Nacht gewesen. Von Schuldgefühlen geschüttelt, hatte ich weder essen noch schlafen können. »Ich war nicht einmal mehr nett zu Walter!«, heulte ich. »Ich habe mich geärgert, dass er mit uns gewohnt und gegessen hat und ständig überall mit dabei war, dass er mehr durfte als ich, und wenn er im Elysée den Chef gespielt hat, hab ich mir immer gewünscht, dass ihm etwas kaputtgeht und er sich bis auf die Knochen blamiert. Ich habe ihm nicht gegönnt, dass du ihn auch mochtest, dabei war er doch mein Freund – und jetzt ist er weg und das ist die Strafe!«
Am Ende dieses von vielen Schluchzern unterbrochenen Geständnisses war die Schulter von Amandas Nachthemd so durchnässt, dass es unbehaglich wurde, daran zu weinen. »Walter ist nicht weg!«, erklärte sie mit Entschiedenheit. »Wir
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