Liverpool Street
lassen das nicht auf sich beruhen. Wir holen ihn da heraus, du wirst schon sehen.«
»Ihn herausholen? Du hast ja keine Ahnung! Frag meine Mutter, wie es ist, wenn du jemanden aus dem Lager holen willst!«
»Das ist kein Konzentrationslager, Schatz. Wir sind nicht in Nazi-Deutschland. Im Moment herrscht eine gewisse Hysterie, aber wenn der Öffentlichkeit erst einmal klar ist, wen sie da eingesperrt hat, kommt Walter bestimmt schnell wieder frei!«
In den nächsten Wochen entdeckte meine Pflegemutter, die bislang nichts anderes gekannt hatte als die verschiedenen Felder der Fürsorge und Nächstenliebe, eine völlig neue Aktivität für sich: den Protest. Sie schrieb an die Regierung, an einzelne Abgeordnete, sie schickte Leserbriefe an sämtliche Zeitungen und Radiostationen – und erfuhr auf diese Weise, dass sie nicht die Einzige war, die gegen die Internierung der Ausländer kämpfte. Verschiedene Gruppen und Einzelpersonen hatten sich demselben Ziel verschrieben und schlossen sich sogar zu einer Demonstration zusammen, bei der ein aufgebrachter alter Gentleman, der sich als Weltkriegsveteran und Kenner der Deutschen auswies, Amanda einen Regenschirm auf den Kopf schlug! Ihr gut gepolsterter orthodoxer Hut wurde ihr dabei tief ins Gesicht geklopft, hielt aber jeglichen Schaden fern. Eine gänzlich ungewohnte, grimmige Befriedigung ergriff sie, als sie mir von dem Zwischenfall erzählte – und davon, wie ihr innerhalb kürzester Zeit ein halbes Dutzend Ladys aus der Anti-Internierungs-Fraktion mit Mut, Tatkraft und dem heftigen Einsatz von Regenschirmen zu Hilfe geeilt waren.
»Weiß Dad, dass Mum sich auf der Straße prügelt?«, schrieb Gary entgeistert vom Stützpunkt Gibraltar aus, wo er ein ganzes Bündel Briefe auf einmal erhalten hatte, die ihm zum Teil wochenlang hinterhergereist waren.
»Schön wär’s«, gab ich zurück. »Das hieße nämlich, dass wir ihm noch schreiben können, aber wir wissen zurzeit nicht einmal, wo er steckt!«
Kaum hatte ich den Brief eingeworfen, tat es mir leid um diesen Satz; auf keinen Fall wollte ich Gary beunruhigen – andererseits glaubte ich nicht, dass selbst den viele Seemeilen entfernten Navy-Soldaten noch verborgen bleiben konnte, was an der Westfront geschah. Fast ungebremst marschierten die Deutschen in Richtung Ärmelkanal und schnitten unsere in Belgien und Nordfrankreich kämpfenden Truppen von den Einheiten ab, die weiter südlich stationiert waren. Die Wucht des deutschen Blitzkriegs überrannte alles, was sich in den Weg stellte, und zwei Wochen nach Beginn der Invasion hatten wir keinerlei Hinweis mehr darauf, wo Onkel Matthew und sein Fronttheater sich befanden.
Die Ungewissheit über Onkel Matthew steigerte Amandas Einsatz für Walters Freilassung noch, es lenkte sie vom Grübeln und hilflosen Warten ab. Mehr als einmal wachte ich nachts auf und merkte, dass sie neben mir schlaflos an die Decke starrte. Einer unabsichtlichen Bemerkung von ihr entnahm ich, dass zum Abschied offenbar böse Worte zwischen meinen Pflegeeltern gefallen waren und dass die Vorstellung Amanda quälte, diese vielleicht nicht mehr zurücknehmen zu können.
Nun hatte ich sie also ganz für mich allein – und hätte bedrückter nicht sein können. Beim Mittagessen im Koscher-Deli hätte ich alles darum gegeben, Walter nach Amandas Wasserglas springen zu sehen, und nachmittags im Kino wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich noch einmal darüber ärgern zu können, wie er eifersüchtig den Projektor bewachte. Verzagt betrachtete ich die Filmplakate an den Wänden des Vorführraums, stundenlang die Staubfäden im Lichtkegel vor dem Projektor oder die Spulen, die sich surrend drehten. Dass ich, nachdem ich oft genug zugesehen hatte, tatsächlich den Film so einzulegen verstand, dass er weder ein schiefes Bild projizierte noch Feuer fing, bot nicht den geringsten Trost.
Der Posten des Filmvorführers war einsamer, als ich mir vorgestellt hatte. Noch trauriger war nur noch der Schabbat. Zu zweit die alte Ordnung aufrechtzuerhalten, erinnerte umso stärker daran, dass alle anderen aus unserem Leben verschwunden waren: Papa und Mamu, Onkel Matthew, Gary und nun auch noch Walter.
Nach einigen Tagen merkten wir, dass wir die Arbeit allein kaum bewältigen konnten, und Amanda stellte einen älteren Herrn ein. Mr Gold hatte schon früher im Elysée ausgeholfen und nichts dagegen, uns für kurze Zeit noch einmal zu unterstützen – so lange, bis Walter wieder da war,
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