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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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was meine Pflegemutter für eine Frage weniger Wochen hielt.
    Wenige Wochen? Ich war überrascht, dass sie überhaupt so weit in die Zukunft dachte. Mir kam es vor, als stünde jetzt über allem, was wir taten, die Vorläufigkeit: über dem Warten auf ein Lebenszeichen von Onkel Matthew und meiner Mutter, dem Warten auf die Rückkehr von Walter, dem Warten auf Fortschritte im Krieg gegen die Deutschen – dem Warten auf Veränderungen, mit denen wir jeden Augenblick rechneten, aber von denen wir nicht wussten, ob wir sie erhoffen durften oder befürchten mussten.
    Während Onkel Matthew sich erst seit Kurzem in unmittelbarer Gefahr befand, galt dies für Gary bereits seit Beginn des Krieges. Deutsche U-Boote machten Tag und Nacht Jagd auf die Schiffe der Handelsmarine, die England mit kriegswichtigem Nachschub und Gütern des täglichen Bedarfs versorgten. In einem ihrer Geleitzüge tat Gary Dienst, und spätestens seit ich in der Wochenschau Bilder der bedrohlich wirkenden Konvois gesehen hatte – schattenhafte Riesen, die sich dicht geschlossen über den aufgewühlten Nordatlantik schoben –, war es mit meiner Vorstellung vom romantischen Leben auf See vorbei. Das furchterregende Geräusch, mit dem ein angreifender Zerstörer das Wasser durchpflügt, hatte ich ebenfalls nicht vergessen: ein rhythmisches, aggressives Stampfen und Schaufeln, ker-da-tramm, ker-da-tramm, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    Der Feind lauerte vor allem auf der wichtigsten Route der britischen Handelsschiffe, im Atlantik zwischen Nordamerika und Europa, und während das britische Expeditionskorps in Frankreich hoffnungslos eingeschlossen wurde, verlor die Navy zahlreiche Schiffe durch Torpedo- und U-Boote. Jeder Tag hielt weitere Schreckensmeldungen bereit. Gequält hörten wir zu, wenn im Radio wieder von Angriffen auf die Konvois die Rede war.
    Hatte ich wirklich vor einigen Wochen noch gedacht, der Krieg wäre halb so schlimm?
    Manchmal fragte ich mich jetzt auch, ob meine Gegenwart für Amanda eine Erleichterung oder eine Last darstellte – ob sie froh war, nicht allein zu sein, oder ob es zusätzlich an ihren Nerven zerrte, sich um meinetwillen beherrschen zu müssen. »Hör auf, mich so anzustarren!«, platzte sie heraus, und einmal schloss sie sich sogar für Stunden in ihrem Zimmer ein. Aber ich konnte nicht anders: Bei jeder neuen Meldung beobachtete ich nervös ihr Mienenspiel, um zu erkennen, ob die Nachricht eine kleine, eine mittlere oder eine große Katastrophe darstellte. Eine kleine Katastrophe war bereits eine gute Nachricht. Bessere gab es nicht mehr.
    Was war zum Beispiel von dem Satz zu halten, so und so viele britische Soldaten seien in Kriegsgefangenschaft geraten? Für die betreffenden Soldaten war es womöglich nur eine mittlere Katastrophe: Sie würden ihre Familien für längere Zeit nicht sehen, aber sie lebten noch, für sie war der Krieg beendet. Es gab strenge Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen, an die sich auch die Deutschen halten mussten. Doch was, wenn der Kriegsgefangene ein Jude war?
    Und wie sollte ich über die Bombardierung deutscher Städte durch die Royal Air Force denken? Bisher waren es nur Städte, die ich nicht kannte, Dortmund, Essen, Aachen, Hannover … doch was, wenn es Berlin traf? Wollte ich wirklich, dass meine alte Heimatstadt in Flammen aufging? Dass Bekka in Gefahr geriet … und Christine?
    Ich bedauerte, dass Mrs Collins nicht mehr da war, um mir den Krieg zu erklären.
    Bis mir einfiel, dass ich noch einen weiteren klugen Freund um Rat fragen konnte, vergingen Wochen. Ich hatte ihn längst besuchen wollen und war nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt noch antreffen würde.
    »Das ist der erste glückliche Tag seit Langem!«, sagte Professor Schueler zum Kellner, als er mir meine Tasse Schokolade bestellte. »Meine junge Freundin ist wieder da!«
    Währenddessen ließ ich verstohlen die Augen schweifen und versuchte mir meine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. In meiner Erinnerung war das Café Vienna ein lauter, lebhafter Ort gewesen; ich hätte es mir nie anders vorstellen können. Doch nun waren viele Tische unbesetzt, die jüngeren Gäste verschwunden, die Musikkapelle auch – interniert, nahm ich an. Niemand, den ich sah, war jünger als Professor Schueler.
    »Ein gewisser Unterschied, nicht wahr?«, meinte der Professor mit bitterem Lächeln. »Lass uns nicht darüber reden. Du bist also aus der Evakuierung zurück, wie

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