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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Zimmer. Da waren meine Mesusa, alle meine Bücher, Garys Modellschiffe, mein vertrautes Bettzeug und das Mobile an der Decke; meine Pflanzen lebten noch und sogar das Papier und die Stifte, die ich bis zu meinem letzten Tag in Finchley benutzt hatte, lagen auf dem Tisch. Es sah aus, als sei ich nie fort gewesen, als hätten sich die Evakuierung, Tail’s End, die letzten acht Monate, selbst Papas Tod nie ereignet.
    Ich verspürte einen Anflug von Panik, als ich es sah – unerwartet und unerklärlich, ein Gefühl, als sei ich aus der Zeit gefallen.
    »Vielleicht möchtest du … nach all dem … heute Nacht lieber bei mir schlafen?«, fragte Amanda zögernd.
    »Darf ich?«, flüsterte ich beschämt. Ich stellte mir vor, mit welcher Liebe sie das Zimmer gerade so erhalten hatte, wie es gewesen war, damit ich mich sofort zu Hause fühlte, wenn ich je zurückkam. Wie hätte sie wissen sollen, dass das falsch sein könnte? Ich wusste ja selbst nicht, warum bei mir immer alles komplizierter war als bei anderen Leuten!
    Wenig später lag ich in Onkel Matthews Betthälfte, erfüllt von einer guten Mischung aus Fremdheit und Nähe, Amanda schlüpfte neben mir unter die Decke und löschte das Licht. Ich hörte sie seufzen. »Reden will ich aber noch nicht«, sagte ich sofort.
    Sie legte mir eine leichte, warme Hand auf die Schulter und ließ sie dort. Das war alles. Vielleicht hatte sie doch verstanden.
    Ich schloss die Augen, mit leiser Stimme begann sie unser Nachtgebet, doch meine Gedanken wanderten bereits weiter. Wo war Mamu in diesem Augenblick? Wo hatte sie Papa beerdigt? Noch einmal sah ich ihn, wie er an meinem Geburtstag an den Strand gekommen war, in dem braunen Mantel, den ich jetzt wiedererkannte, und mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
    Doch diesmal dauerte es nicht nur eine Sekunde. Diesmal merkte ich, dass ich das Bild festhalten konnte, solange ich wollte! Und plötzlich wusste ich, dass ich, wenn ich in Zukunft an Papa dachte, nicht mehr seine Verhaftung vor mir sehen würde, seine weißen Füße und die blutige Hand an der Wand. Er würde für immer für mich am Strand stehen, in einem Land, das gut zu ihm gewesen war, und darauf warten, dass unsere Gedanken sich trafen.
    Das also war mein Geburtstagsgeschenk gewesen: ein anderes Bild, ein anderer Moment mit meinem Vater, der stärker war als alles, was die Nazis zerstört hatten.
    Entgegen meiner bisherigen Gewohnheit war am nächsten Morgen ich es, die als Erste aufwachte. Die Verdunkelungsvorhänge erweckten den Eindruck, dass es noch sehr früh war, aber als ich sie ein kleines Stück beiseiteschob, fiel helles Licht herein. Ich öffnete den Vorhang noch etwas weiter, um Amanda darauf aufmerksam zu machen, dass es Frühstückszeit war, doch die brummte nur und verschwand tiefer unter der Decke.
    Dafür war ein anderer bereits auf den Beinen. Walter hatte Tee gekocht, Brot und den letzten Rest von Mrs Stones Käse geschnitten, das Radio lief und er saß Zeitung lesend auf der Küchenbank. Walter mit dem Telegraph! Es war beinahe unheimlich.
    »Seit wann kannst du Englisch lesen?«, fragte ich argwöhnisch und setzte mich ihm gegenüber.
    Er lächelte. »Das täuscht. Ich übe noch. Was ich nicht verstehe, frage ich nachher Mrs Shepard und versuche, mir wieder ein paar neue Wörter zu merken.«
    »Aha«, murmelte ich, halb darauf vertrauend, dass sich an diesen Lückenfüller weitere Worte von selbst anschließen würden, aber keins tat mir den Gefallen. Vor mir saß Walter, der mir wundervolle Briefe nach Tail’s End geschickt hatte, und ich hatte keine Ahnung, worüber ich mit ihm reden sollte! Dabei fand ich ihn nun eigentlich doch wieder ganz nett. Bei unserem Aufbruch aus Deutschland war er etwas dicklich gewesen, in der Zwischenzeit aber ein gutes Stück in die Länge gewachsen – nicht zu Garys außergewöhnlichem Glanz, aber doch so, dass er unter meinen Freundinnen in Tail’s End für Unruhe gesorgt hätte.
    »Warum frühstücken wir eigentlich nicht im Garten?«, fragte ich schließlich.
    »Im Garten?«, wiederholte Walter. »Komm mal mit!«
    »Oh nein!«, rief ich, als er die Küchentür öffnete. »Oh nein, oh nein, oh nein!«
    »Wenn wir erst einmal ernten können, wirst du dich noch freuen!«, versprach Walter.
    Doch Bombenkrater direkt vor meinen Füßen hätten mich nicht tiefer erschüttern können. Einen blühenden, duftenden Paradiesgarten hatte ich im September verlassen, nun stand ich auf einer wackligen Steinplatte

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