Liverpool Street
immer: Autos, Taxis, Busse, einkaufende Leute, die Auslagen der Geschäfte waren voll feiner Sachen. Schlangen bildeten sich höchstens vor den Lebensmittelläden – und vor unserem Kino, dem Elysée!
Das Kino nur von Weitem zu sehen, erfüllte mich bereits mit Stolz. Ich liebte den weichen roten Teppich im Foyer, in dem man beim Gehen geräuschlos versank, die Spiegel und Kristallleuchter auf dem Weg zum Vorführsaal. Das Kassenhäuschen war Amandas Reich, hier verkaufte sie Karten und Süßigkeiten, wenn sie nicht gerade im Büro Verleihkataloge wälzte. Und auch ich suchte natürlich meine Lieblingsfilme aus, legte Zettel mit Pfeilen und Ausrufungszeichen zwischen die betreffenden Seiten und sorgte dafür, dass Charlie Chaplin und Shirley Temple im Elysée nicht arbeitslos wurden.
Im Übrigen war es meine Aufgabe, zwischen den Vorstellungen den Saal zu fegen und unter den Sitzen nachzusehen, ob jemand etwas vergessen hatte. Danach postierte ich mich am Saaleingang, um Karten abzureißen. Immer drang dabei zuerst die Melodie der Wochenschau an mein Ohr: Die Home Guard baut zu fröhlicher Musik Panzersperren, eine berühmte Diva gibt ein Gastspiel im West End, die Prinzessinnen besuchen ein Kinderkrankenhaus. Sobald die ersten Bilder des Hauptfilms über die Leinwand flackerten, schloss ich die Tür; wer später kam, wurde mit der Taschenlampe zu einem freien Platz geleitet.
Das war alles recht schön und wichtig, doch nach einigen Wochen fühlte ich mich reif für echte Aufgaben. Was konnte denn so schwer daran sein, einen Zelluloidstreifen um zwei, drei Rädchen eines Vorführgerätes zu wickeln? Gut, das Gerät war groß, ich hätte mich auf einen Stuhl stellen müssen, um die obere Filmrolle aufzustecken. Aber es gab einen Stuhl. Das Problem war nicht meine Größe, das Problem war Walter. Er ließ mich die Rollen nicht einmal anfassen, als ob das Kino ihm gehörte!
Hatte er etwa vergessen, dass er ohne mich gar nicht hier wäre? Manchmal stand ich kurz davor, ihm zu sagen, er solle doch zurückgehen zu seinen Reißverschlüssen!
Dass ich es nicht tat, hing nur damit zusammen, dass ich inzwischen seine frühere Bleibe gesehen hatte: ein winziges, zugiges Zimmer mit Wäscheleinen kreuz und quer, an denen die Sachen von vier Männern hingen. Walters Bett war längst wieder besetzt. Es gab keine Toilette, nur einen Donnerbalken im Hof für etwa dreißig Personen und kaltes Wasser in einer Küche mit verschimmelten Wänden. Walters Vater hatte bereits einen seltsamen Husten, vielleicht auch von den Bleichmitteln in der Schneiderei.
Nein, es war schon besser, dass Walter nun bei uns lebte. Aber musste er sich deshalb so aufspielen? Nicht einmal auf die Leiter ließ er mich, um die Steckbuchstaben über dem Eingang auszutauschen, wenn das Programm wechselte.
FRED ASTAIRE IN BROADWAY MELODY.
VIVIEN LEIGH UND CLARK CABLE IN GONE WITH THE WIND.
JUDY GARLAND IN THE WIZARD OF OZ.
Ich sollte unten stehen bleiben und ihm sagen, ob die Zwischenräume der Buchstaben stimmten. Die Zwischenräume der Buchstaben! Ich dachte gar nicht daran. Ich hoffte, dass er irgendeinen peinlichen Schreibfehler machte, aber den Gefallen tat er mir nicht.
In meiner neuen fünften Klasse gehörte ich zu den begehrtesten Persönlichkeiten, seit sich herumgesprochen hatte, dass ich ein Kino besaß! Fast jeden Nachmittag tauchten Kinder auf, die ich kannte und umsonst hineinließ. »Jeder in der Schule will jetzt mit mir befreundet sein«, schrieb ich beglückt an Mamu.
»Würden sie das auch ohne Kino wollen?«, schrieb sie zurück.
Als ob das eine Rolle spielte! Ich genoss es, beliebt zu sein. Der Grund war mir egal. Oft setzte ich mich zu meinen Gästen, um den Film mit ihnen zusammen zum fünften oder sechsten Mal zu sehen. Karen, die ich noch aus Tail’s End kannte, ließ ich sogar hin und wieder Karten abreißen, damit Walter sah, dass es Leute gab, die teilen konnten.
Aber meine beste Freundin für den Krieg war immer noch Hazel. Fast jeden Abend telefonierten wir vom Büro aus miteinander. Sie war auf einen Bauernhof im Hinterland von Cardiff evakuiert und ihre Gasteltern gaben die seltsamsten Laute auf Walisisch von sich, wenn sie Hazel für mich ans Telefon holten.
Es war mein zweiter Sommer in England und, von meinem Verdruss über Walter abgesehen, die schönste Zeit meines Lebens. Nur eine leise, vorwurfsvolle Stimme schien sich jetzt manchmal melden zu wollen, von der ich unerklärlicherweise überzeugt war, dass sie
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