Liverpool Street
Gestalten erhoben sich, sahen wieder aus wie Menschen; Bahnen, die mitten auf der Strecke gewartet hatten, setzten sich erneut in Bewegung. Die meisten Zufluchtsuchenden verließen die Station, während andere sich in dicht gedrängten Reihen zur Fahrt nach Hause anstellten. Ich hätte nun gern nachgesehen, was oben los war, ob es brannte oder gar Verschüttete geborgen wurden. Ich verstand nicht, wie Amanda nach Hause fahren konnte, ohne zumindest einen kurzen Blick auf die Schäden geworfen zu haben und Bescheid zu wissen! Doch sie bestand darauf, die erste U-Bahn zu nehmen, in der wir Platz fanden, und wenn ich noch so laut protestierte.
Beleidigt saß ich ihr gegenüber, die Arme verschränkt und mein Spiegelbild anschmollend, das an der Fensterscheibe mitfuhr. »Ich werde dich bestimmt keine Toten und Verletzten besichtigen lassen!«, fuhr sie mich plötzlich an, als ob ich irgendetwas gesagt hätte.
»Schon gut«, erwiderte ich böse. »Ich konnte ja nicht wissen, dass du so wenig aushältst!«
Nun starrten wir beide zornig gegen das Fenster. Unsere Station wollte einfach nicht kommen. Endlich rollte die U-Bahn aus dem Tunnel in die überirdisch verlaufenden Gleise … und ich drückte erschrocken mein Gesicht an die Scheibe.
Es war nur ein einziger Brand: eine dünne schwarze Rauchfahne, ein zertrümmertes Dach, das sich gegen zitterndes oranges Licht abhob. Doch das Haus lag an der Bahnlinie und im Näherkommen blickte ich direkt in züngelnde, spitz zulaufende Flammen, die aus der oberen Etage schlugen. Hinter geborstenen Scheiben schaukelte sacht ein glühender Kronleuchter.
»Die armen Menschen«, murmelte Amanda. »Hoffentlich sind sie noch herausgekommen …«
Bestürzt verließ ich hinter ihr die U-Bahn. Mit schrillem Bimmeln kam uns ein Pumpenwagen der Feuerwehr entgegen; wir traten beiseite, um ihn vorbeizulassen. Ein Stück weiter lagen große Erdklumpen mitten auf der Straße, umstanden von aufgeregten Leuten, denen eine Bombe in den Garten geflogen war.
»Wären wir in unserem Shelter gewesen, wären wir jetzt verschüttet!«, zeterte eine Frau.
Wie gern hätte ich im Weitergehen Amandas Hand ergriffen! Ich wusste, dass es dafür nur einer kleinen Entschuldigung bedurft hätte und verstand selbst nicht, warum ich keine über die Lippen brachte. Und Amanda schwieg ebenfalls, wohl weil sie nicht der Typ war, der anderen ein Hab ich’s dir nicht gesagt? an den Kopf warf. Stumm gingen wir nach Hause.
»Ich mache mir eine Kanne Tee und warte auf Matthew«, sagte sie, während sie einen Umschlag mit Garys Handschrift aufhob, den der Briefträger durch den Schlitz in der Tür geworfen hatte. »Hast du Hunger?«
»Nein«, erwiderte ich trotzig, ging ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein. Der Sprecher berichtete von einigen Flugzeugen, die über London Bomben abgeworfen hatten – möglicherweise ein Irrtum, nachdem Teile eines Geschwaders auf dem Weg zu den Flugplätzen der RAF offenbar die Orientierung verloren hatten. Es hatte Tote und Verletzte vor allem unter Passanten gegeben, die gerade aus Kinos und Theatern kamen, und an mehreren Stellen wurden die Rettungsarbeiten durch Schaulustige behindert.
Nun schämte ich mich noch viel mehr, zumal Amanda ebenfalls ins Wohnzimmer gekommen war und jedes Wort gehört haben musste. Doch sie setzte sich kommentarlos an ihren Sekretär und las Garys Brief, dessen ungewöhnliche Länge von zwei Seiten mir einen zusätzlichen Stich versetzte. Bestimmt enthielt dieser Brief – der erste seit seinem Heimaturlaub – einen ausführlichen Bericht über Melissa Cole, über die ich noch keineswegs hinweg war!
Amandas Lächeln vertiefte sich, während sie las; es kam mir vor wie ein Verrat.
»Und?«, fragte ich nach einer Weile böse. »Bekommt sie schon ein Baby?«
Für einen köstlichen Augenblick wiederholte sich die Vision meiner öffentlichen Demütigung in Tail’s End, wenngleich in einer äußerst befriedigenden Variante: Diesmal hob nicht ich mich in die Lüfte, sondern eine aufgeblähte Blondine!
Der Blitz, der mich aus Amandas Augen traf, schoss den Ballon allerdings augenblicklich ab. »Mit Sicherheit nicht! Jetzt reicht es, Frances!«, sagte sie voller Wut.
»Wieso? Er war drei Tage dort – jede Menge Zeit zum Küssen. Und es ist fast sechs Wochen her, also weiß man ja jetzt langsam Bescheid«, schnappte ich.
Oh weh! Wenn es irgendetwas gab, das meine Pflegemutter nicht ausstehen konnte, dann war es ein patziger Ton! Doch
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