Liverpool Street
Amanda faltete nur mit großer Sorgfalt den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück, und als sie mich wieder ansah, war ich vollkommen verblüfft über das spurlose Verschwinden jeglichen Ärgers aus ihrem Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was in weniger als drei Sekunden damit passiert sein konnte. Amanda blickte mich an wie eine Krankenschwester, die auf schonende Weise eine wirklich schlechte Nachricht zu überbringen hat.
»Sieh mal, es war ein langer und anstrengender Tag. Es ist schon spät und wir sind beide ein wenig mitgenommen. Vielleicht verschieben wir wichtige Unterhaltungen besser auf morgen«, sagte sie und es klang wie eine Bitte.
Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. »Nein, wieso?«, fragte ich alarmiert.
Amanda seufzte. »Na schön«, antwortete sie. »Ich wusste, das würde auf mich zukommen. Warum also nicht heute Nacht, wo wir bereits einen Bombenangriff hinter uns haben? Lass uns … am besten auf dem Sofa sitzen!«
Sie drehte das Radio aus. Wir setzten uns nebeneinander auf das Sofa, hatten aber noch nicht mehr als einen beunruhigten Blick getauscht, als Amanda schon wieder aufsprang. »Wir haben«, verkündete sie, »ein Buch!«
Verdutzt hörte ich sie über mir im Schlafzimmer umhergehen und offenbar finden, was sie suchte, denn für einige Minuten war es ganz still. Als sie zurückkehrte, hielt sie einen abgegriffenen Wälzer mit dem mysteriösen Titel The Family Doctor im Arm, setzte sich neben mich und begann ohne Umschweife: »Vergiss als Erstes die Sache mit den Küssen. Das haben sie uns damals auch erzählt und es ist ein einziger großer Quatsch.«
»Oh – gut!«, erwiderte ich, der nun endlich dämmerte, was Amanda im Begriff war, mir zu enthüllen. Ich setzte mich bequemer zurecht und sah sie erwartungsvoll an.
»Die Schöpfung ist viel wunderbarer«, fuhr sie tapfer fort. »Und viel besser geplant. Fast alles, was du im kleinsten Lebewesen beobachten kannst, wiederholt sich auch beim Menschen, der am weitesten entwickelten Spezies. So brauchst du dir zunächst einmal nur eine kleine Biene vorzustellen, wie sie in eine Blüte fliegt, um dort ihren Rüssel –«
»Moment!«, unterbrach ich sie entzückt. »Amanda, hältst du mir gerade die Bienchenrede?«
»Die was?«, fragte Amanda nach einer Schrecksekunde.
»Die Bienchenrede! Die großen Mädchen in Tail’s End haben darüber gesprochen, dass ihre Eltern sie ihnen vor der Abfahrt noch gehalten hätten, und ich habe natürlich gesagt, meine auch, da ich nicht zugeben wollte … na ja! Aber sie ist es, nicht wahr? Darum geht es also!«
Ich lehnte mich erleichtert zurück. In Amandas Gesicht zuckte es. »Unterbrich mich nicht, Frances«, mahnte sie mit solcher Selbstbeherrschung, dass sie verstohlen eine Träne wegwischen musste. Sie setzte ihre Lesebrille auf und öffnete das Buch.
Ich gehorchte. Ich sagte kein einziges Wort während ihrer langen Ausführung, die einen Bogen spannte von den Wundern der Botanik über die Gewohnheiten von Kleinstlebewesen bis hin zur vergleichenden Anatomie des Menschen, untermalt von Zeichnungen aus The Family Doctor, um dann auf dem Umweg über das dritte Buch Mose zur Schilderung von Aktivitäten zu gelangen, an denen zusehends weniger Insekten beteiligt waren.
Am Ende zog sich eine Schweigeminute in die Länge, bis meine Pflegemutter es nicht mehr aushielt, die Brille abnahm und sich mit allen Anzeichen der Sorge erkundigte: »Hast du denn gar keine Fragen …?«
Ich antwortete, da Amanda alles ganz anschaulich erklärt habe, hätte ich eigentlich nur eine einzige Frage. »Ja?«, erwiderte sie, auf alles gefasst.
»Haben wir Juden«, gab ich vorwurfsvoll zurück, »noch nicht genug komplizierte Rituale?«
Erst viel später erfuhr ich, dass ich damit einen privaten Witz zwischen meinen Pflegeeltern in Gang gesetzt hatte, der ihre Zweisamkeit von nun an fast zwanghaft begleitete (»Wie denkst du über ein kompliziertes Ritual, Liebling?« – »Sehr gern, wenn es richtig kompliziert wird!«). Im kritischen Augenblick wäre Amanda allerdings nie in den Sinn gekommen, eine Äußerung von mir nicht mit dem größten Ernst zu beantworten.
»Das ist eine sehr gute Frage!«, erklärte sie nach kurzer Überlegung. »Rituale helfen uns, scheinbar selbstverständliche Dinge bewusster zu gestalten. Sie schützen vor Gedankenlosigkeit … beim Aufstehen, Essen, Schlafengehen, dem Wechsel der Jahreszeiten … und warum nicht auch in der Beziehung zwischen Mann
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