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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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die Eingangstür des Kinos abschloss. »Heute Abend sind Filmfreunde unterwegs!«
    Ich hakte mich bei ihr ein und wir spazierten zur U-Bahn, froh, dass der Alarm nicht eine Viertelstunde früher begonnen und die Vorstellung unterbrochen hatte. In der schwülwarmen Sommernacht waren noch zahlreiche Fußgänger auf der Straße, die aus Kinos und Restaurants kamen und sich wie wir vom Fliegeralarm kaum noch stören ließen. Das Ziel der deutschen Flugzeuge, die in diesem August am Himmel über England auftauchten, war nicht London. Sie bombardierten – bei grimmigem Widerstand – die Stützpunkte der Royal Air Force; es gab traurige Nachrichten über den Verlust an jungen Piloten, an Spitfires und Hurricanes. Doch die Hauptstadt fühlte sich sicher. Suchscheinwerfer kreuzten routinemäßig am Himmel wie helle Schwerter und erleichterten auch unseren Weg, der trotz der Verdunkelung in den Straßen nun immer gut zu erkennen war.
    Ich dachte an Onkel Matthew, der in dieser Nacht Dienst hatte – und der bis auf die Haut nass werden würde, wie es aussah, denn urplötzlich grollte Donner auf. Ein Bersten und Krachen folgte, das selbst die mit Sommergewittern bestens vertrauten Londoner erschreckte, denn mit einem Mal begannen alle zu laufen. Lachend blieb ich stehen, blickte nach oben in Erwartung der ersten dicken Tropfen … zwecklos zu rennen; unmöglich, es trocken bis zur U-Bahn zu schaffen! Selbst als Amanda meine Hand packte und mich mit einem entsetzten: »Frances, lauf! « mit sich fortriss, verstand ich noch nicht.
    Die Bomben fielen ohne einen Laut. Da war nur das dumpfe Grollen entfernter Zerstörungen, das Krachen und Beben von Einschlägen ganz in unserer Nähe – und die Schreckensschreie flüchtender Menschen. Ich klammerte mich an Amandas Hand, während wir im Pulk mitgerissen wurden, meine ganze Anstrengung darauf konzentriert, sie nicht loszulassen. Ein stechender Geruch senkte sich über uns, hinterließ im Mund einen widerlichen Geschmack nach Feuer und Schießpulver und noch im Laufen dachte ich: Klar! Mit irgendetwas müssen sie die Bomben ja füllen …
    Da waren wir schon fast am Eingang der U-Bahn. Luftschutzwarte winkten uns die Treppen hinab, sortierten die einströmenden Menschen in Tunnel und Schächte. Es war seltsam still hier unten, ein erschöpftes, wie betäubtes Scharren und Schlurfen von Füßen, hier und da leises Weinen. Schemenhaft bewegten sich menschliche Umrisse zwischen uns und der matten Beleuchtung, auf der Suche nach einem freien Platz.
    Ich rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang neben Amanda. Schwer atmend lehnte sie am Mauerwerk, ihren Hut musste sie unterwegs verloren haben. »Ich glaube, ich muss dir erst mal beibringen, wie man rennt«, meinte ich.
    Sie warf mir einen entrüsteten Blick zu, war aber noch nicht in der Lage, sich zu wehren. Hellwach stieß ich sie in die Seite, von einem ungewohnten Gefühl des Triumphs erfüllt. Wir hatten es geschafft! Wir hatten uns nicht losgelassen! Wir waren zusammen angekommen! Im Nachhinein kam es mir vor, als hätte ich nicht einen Augenblick Angst gehabt.
    Eine Frau wankte an uns vorbei und rief mit klagender Stimme: »John! John! Bist du da?«
    Ihre Rufe wurden leiser, während sie im Schacht weiterlief. »Geht es dir gut?«, fragte ich Amanda, nun doch ein wenig besorgt.
    »Bestens«, sagte sie grimmig. »Erwarte also nicht, dass ich auf dein Angebot zurückkomme! Beim nächsten Mal stelle ich mich in einen Hauseingang und spanne den Regenschirm auf.«
    Ich legte beide Arme um sie und spürte, wie sie zitterte, drückte sie gleich noch ein bisschen fester, um sie mit meinem neu entdeckten Mut zu überströmen. Der Schacht füllte sich mit weiteren Menschen, weiteren leisen Rufen. Gladys. Emma. Trevor. Und immer noch die Frau, die nach John schrie.
    »Gott helfe uns. Nun geht es also los«, flüsterte Amanda.
    Doch die Entwarnung kam schnell. Nur etwa anderthalb Stunden hockten wir unter der Erde auf dem kalten, staubigen Beton, Amanda an die harte Wand gelehnt, ich in ihrem Arm. Die ganze Zeit lauschte ich angestrengt nach oben und versuchte mir vorzustellen, was wohl geschah, doch außer dem fernen Auf und Ab der Sirenen drang kein einziges Geräusch zu uns. Reglose graue Gestalten warteten in einer langen Reihe, die sich im Halbdunkeln verlor; ab und zu hörte ich weiter hinten im Schacht, wo niemand mehr saß, das Quieken einer Ratte.
    Erst beim Ton der Entwarnung kam Leben in den Tunnel. Die grauen

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