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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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weil er jetzt einen englischen Namen hat!«, sagte ich fassungslos.
    Als ich aufschaute, begegnete ich dem mit Abstand seltsamsten Blick, den Amanda, meine Freundin, Schwester und Mutter, mir je zugeworfen hatte. Er war spöttisch und zärtlich, fragend und wissend, vergnügt und ein wenig traurig zugleich und ich konnte mir nur einen einzigen Grund für einen solchen Blick vorstellen: Offenbar hatte sie sich soeben eine Frage beantwortet, noch bevor ich sie mir auch nur gestellt hatte!
    »Wieso rege ich mich eigentlich auf?«, brummte ich.
    »Bravo!« Amanda legte den Arm um meine Schulter und führte mich in die Küche. »Das ist eine sehr gute Frage, Schatz! Sehr lohnenswert, bei Gelegenheit darüber nachzudenken. Aber jetzt lass uns zuerst auf einen alten und neuen lieben Freund anstoßen, Pionier Walter Lightfoot, auf dass kein Pfeil ihn trifft, der am Tag dahinfliegt, noch sein leichter Fuß an einen Stein stößt – sehr frei nach dem Psalmisten.«
    »Du hast Recht«, sagte ich. »Soll er doch heißen, wie er will. Was geht mich das an?«

19
    Am Tag, als Garys Schiff unterging, fuhren unsichtbare Züge durch Europa, die niemand bemerkt haben will, und riefen Münchner Studenten, die sich »Die Weiße Rose« nannten, auf Flugblättern zum Widerstand gegen Hitler auf. Am Tag, als Garys Schiff unterging, informierte der Jüdische Weltkongress westliche Regierungen über ein monströses Dokument, das in einer Villa am Wannsee unterzeichnet worden war. Am Tag, als Garys Schiff unterging, landeten amerikanische Truppen auf Guadalcanal.
    An dem Tag, als Garys Schiff unterging, lasen wir in der Schule den »Mittsommernachtstraum« mit verteilten Rollen, brachte Matthew die Buchstaben »GREER GARSON IN MRS. MINIVER« über dem Eingang des Elysée an und wusch und fütterte Amanda alte Menschen. Das war unser siebter August 1942 und zwei Tage später, als die Princess of Malta auch uns mit in die Tiefe riss, würde keiner von uns mehr zu sagen wissen, was er in einer bestimmten Stunde getan hatte – auch Amanda nicht, die sich wieder und wieder zu erinnern versuchte, wie um sich dafür zu bestrafen, dass sie nichts gefühlt, nichts geahnt, nichts verhindert hatte.
    Dass man vierzehn-, fünfzehnjährige Jungen die Telegramme ausliefern ließ, würde ich nie begreifen. Kaum erspähte man sie von ferne in ihrer adretten Uniform, wehte ihnen auch schon ein kalter Schrecken voraus, huschten Frauen, die eben noch schwatzend am Gartenzaun gestanden hatten, fluchtartig in die Häuser, wo sich gleich darauf Gardinen bewegten: Bitte geh vorbei! Bitte komm nicht zu uns!
    Ich hatte den Telegrammjungen im Frühjahr zu den Beavers gehen sehen, ins übernächste Haus gleich auf der anderen Seite der Godfrey-Ruine. Sein Blick war ernst und ängstlich gewesen. Die Beavers versteckten sich noch immer vor ihm, denn sie hatten einen zweiten Sohn im Feld.
    Unseren Boten sahen wir nicht kommen. Amanda und ich räumten die Reste unseres raschen Mittagessens fort; ich hatte Ferien und wollte hinüber zu Hazel, die Zwillinge ausfahren. Noch immer sehe ich Amanda beim Schellen der Hausglocke die Hände abtrocknen und mit ganz leichten Schritten die paar Meter zur Tür gehen. Es ist das deutlichste Bild, das ich von diesem Tag in Erinnerung habe: Amanda geht, nur eine Flurlänge, wenige Schritte. Der Rückweg dauerte fast ein Jahr.
    Ich hörte kein einziges Wort. Als sie nicht zurückkam, warf ich einen Blick in den Flur und sah die Haustür weit offen, dahinter einen blassen grauen Himmel. Doch erst als ich den Schuh an der untersten Treppenstufe liegen sah, begriff ich. Sie musste ihn verloren haben, als sie sich auf Händen und Füßen bis zur Mitte der Treppe hinaufschleppte, wo sie immer noch saß, mit gefurchter Stirn ein dünnes Blatt Papier betrachtend.
    »In Ordnung«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Jetzt. Matthew anrufen. Im Altenheim absagen. Den Rabbiner verständigen. Sie werden uns Bescheid geben wegen der Schiwa.«
    »Amanda«, flüsterte ich. »Mum!« Ich kroch zu ihr hinauf. Aber ihre Namen erreichten sie nicht mehr. »Briefe an die Shepards, die O’Learys … und die Coles«, fuhr sie fort. »Die werden es wissen wollen, selbst wenn …«
    Sie musste schon länger versucht haben, sich auf diesen Moment vorzubereiten, und warf einen neuerlichen, hoch konzentrierten Blick auf das Telegramm, als ob dort ihre nächsten Schritte geschrieben stünden. Vorsichtig nahm ich ihr das Blatt aus der Hand und legte es beiseite.

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