Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
richtig. Was mache ich hier? Ich müsste jetzt zu Hause sein.«
    »Lass deine Eltern erst mal allein. Sie sind ganz durcheinander, das hast du doch gemerkt. Es ist nicht gut, wenn man so etwas mit ansieht.«
    »Was, wenn sie mich aus einem anderen Grund fortgeschickt haben?«, murmelte ich. »Weil ich nicht zur Familie gehöre …«
    Das Bett geriet in Bewegung, Hazel kletterte herunter und schlüpfte zu mir unter die Decke. »Ich musste es Gary versprechen, aber ich glaube, wir haben uns geirrt«, flüsterte ich. »Ich bin nicht ihre Tochter, wie sollte ich sie trösten?«
    »Frances, im Augenblick könntest du sie nicht einmal trösten, wenn du fünf Töchter wärest! Und du siehst sie doch morgen schon wieder.«
    »Ja, bei der Schiwa. Mit allen anderen fremden Gästen!«
    »Was genau findet da eigentlich statt?«, fragte Hazel, wohl um mich abzulenken.
    Aber ich zuckte bloß mit den Schultern, nicht nur weil ich noch nie eine Schiwa mitgemacht hatte, sondern weil ich plötzlich an nichts anderes mehr denken konnte, als dass ich fortgeschickt worden war. Amanda und Matthew wollten allein sein. Ich war kein Trost. Was immer wir bis hierher miteinander durchgestanden hatten … in diesem, alles Begreifen übersteigenden Unglück hatte ich keinen Platz.
    Sie hatten Mrs Bloom geschickt. Die Frau unseres Rabbiners stand persönlich in dunklen Kleidern und mit ernstem Gesicht neben der zarten Mrs Vathareerpur in ihrem hellblauen Sari: »Deine Eltern haben mich gebeten, dich abzuholen und ein wenig vorzubereiten.«
    Furchtsam stolperte ich neben ihr her, der Griff des Köfferchens brannte in meiner Hand. Bruchstücke von Mrs Blooms Belehrung drangen an mein Ohr: »… in sein Schicksal fügen … kein Lärm, nicht die geringste Auflehnung soll die Toten stören … die Erste Mahlzeit, Ei und Brot … während sieben Tagen verlassen die Trauernden ihre Wohnung nicht …«
    Ob das, was sie mir erklärte, auch für mich galt? Bestimmt nicht: Wie konnte ich zu den Trauernden gehören, wo doch Gary nicht wirklich mein Bruder war? Doch zu den Besuchern, die nach kurzem Aufenthalt wieder zu gehen hatten, gehörte ich auch nicht, denn ich wohnte ja dort! Mit Mühe riss ich mich zusammen und zwang mich, genau zuzuhören, doch es war, wie ich befürchtet hatte: Leute wie ich kamen in dem gesamten Regelwerk nicht vor.
    Und zu wissen, was mich im Haus erwartete, hieß keineswegs, darauf auch vorbereitet zu sein. Mrs Bloom hatte mir zwar erklärt, dass »die Trauernden« ohne Schuhe direkt auf dem Fußboden oder auf niedrigen Hockern saßen, während »die Besucher« auch am Tisch Platz nahmen, aber dass ich Amanda und Matthew auf dem Fußboden vorfinden würde, war überhaupt nicht bei mir angekommen. Mrs Bloom musste mich ins Wohnzimmer schieben, stellte mich dort ab und wand mir den Koffer aus der Hand. Ich war nicht nur gelähmt, ich war versteinert.
    Eine der Frauen von der Chewra Kadischa kam auf mich zu. Ich kannte sie, sie hatte im Winter die Trauerkleider für Professor Schueler mit uns genäht, nun streckten sich ihre Hände nach mir aus. Meine Augen, das Einzige, was ich noch bewegen konnte, folgten gebannt und sahen zu, wie eine Hand nach meinem Kragen griff, während die andere eine kleine Schere ansetzte und einen winzigen Schnitt machte. Im nächsten Moment wurde die Frau wieder beiseitegeschoben, ich blickte auf und schaute geradewegs in Amandas Gesicht.
    Wie klein sie war! Ich reichte ihr schon bis über die Schulter, noch nie war mir das aufgefallen. Ihre Augen hatten einen abwesenden, in sich gekehrten Ausdruck. Sehr ruhig und ohne ein Zeichen des Erkennens nahm Amanda den beschädigten Stoff in ihre beiden Hände und zerriss ihn mit einer einzigen raschen Bewegung – ein leises Geräusch nur, das aber hundertfach verstärkt bei ihr anzukommen schien, denn im Augenblick des Zerreißens sah ich eine Welle von Überraschung und Schmerz ihr Gesicht überspülen.
    Für mich jedoch war es der Augenblick, in dem ich wusste, wohin ich gehörte. Die zerrissenen Kleider waren das Zeichen der Trauernden, und es war Amanda, Garys Mutter, die mich in diesen Kreis aufnahm. Sie hätte mir keine größere Liebe erweisen können.
    Für einen kurzen Moment bildete ich mir ein, ihre Hand in meinem Rücken zu spüren, als sie mich zu ihrem, unserem Platz führte. Matthew, der mit den Tränen kämpfte, legte den Arm um mich und hielt mich während der langen Stunden, in denen immer neue Besucher eintrafen und leise mit

Weitere Kostenlose Bücher