Liverpool Street
Menschen einander auf die Schultern.
»Was in aller Welt ist denn passiert?«, stoppte Amanda einen Passanten.
»Sie wissen es noch nicht?«, rief der Mann. »Großbritannien ist gerettet, meine Damen! Die Japaner haben Pearl Harbor angegriffen! Die USA befinden sich im Krieg!«
Amanda schlug die Hand vor den Mund. »Oh Gott, wie wunderbar!«, stammelte sie. »Endlich! Frances, lauf zurück, du musst es sofort Matthew sagen! Unsere Gebete sind erhört worden!«
Ich rannte so schnell wie nie. Matthew und die Männer von der Chewra Kadischa hielten erschrocken in ihrer Arbeit inne und riefen mir zu, ob etwas passiert sei.
»Ja!«, keuchte ich aufgeregt. »Eine Gebetserhörung! Eine Amerikanerin ist angegriffen worden, die USA treten in den Krieg ein!«
Die Männer sahen sich verdutzt an. »Wer ist angegriffen worden?«
»Pearl Harbor«, sagte ich. Sie brachen in Jubel aus. »Wer ist sie? Ich hab noch nie von ihr gehört«, rief ich, aber meine Frage ging in der allgemeinen Begeisterung unter.
Erst das Radio klärte mich am Abend darüber auf, dass es sich bei Pearl Harbor um den Pazifik-Stützpunkt der Amerikaner handelte. Fast die gesamte dort stationierte Flotte war versenkt worden und über zweitausend Männer ums Leben gekommen – eine entsetzliche Vorstellung, vor allem für die Familie eines Fähnrichs zur See, aber tatsächlich die ersehnte Schicksalswende in diesem Krieg. Siebzehn lange Monate hatte Großbritannien allein gegen die Nazis gekämpft. Nun wurden die Karten endlich neu gemischt.
Doch auf dem Rückweg in der U-Bahn war ich noch voller Mitgefühl für jene unbekannte Dame in Amerika, von der offenbar alles abgehangen hatte. Die Briten hatten sich den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten so lange verzweifelt gewünscht, dass die Frau in ständiger Angst gelebt haben musste. Mit Japanern hatte sie bestimmt nicht gerechnet.
In den Monaten nach Pearl Harbor verlor ich langsam, aber sicher den Überblick über all die Schauplätze, an denen Menschen unterschiedlicher Nationen einander bekämpften. Ein einzelnes Land hatte vor wenigen Jahren begonnen, die Weltkarte zu seinen Gunsten verändern zu wollen; inzwischen infizierte dieses Virus den halben Globus. Italien war in Jugoslawien und Griechenland einmarschiert, aber auch in Libyen und Ägypten, wo britische, australische und indische Soldaten ihre Stützpunkte verteidigten. Die Deutschen starteten das Unternehmen »Barbarossa«, den Einmarsch in die Sowjetunion, obwohl sie gerade noch mit den Russen befreundet gewesen waren. Gleichzeitig mussten sie den verbündeten Italienern zu Hilfe eilen, die sich auf dem Balkan und in Nordafrika übernommen hatten.
Die Japaner, dritte »Achsenmacht« neben Deutschland und Italien, wünschten sich Groß-Asien und stürzten sich auf die britischen, französischen und niederländischen Kolonien im Pazifik und Indischen Ozean. Die Briten verloren Hongkong und Malaya und verschanzten sich in aussichtsloser Lage in Singapur. Auf den Philippinen versuchte Amerika eine japanische Invasion aufzuhalten, Australien leitete nach der Eroberung Manilas die Totalmobilmachung ein. Und auch Malta stand unter ständigem Beschuss, weil die Briten von ihrem Mittelmeerstützpunkt aus die deutschen Nachschublinien nach Nordafrika bedrohten.
Sicher trug das unüberschaubare, scheinbar unaufhaltbar gewordene weltweite Gemetzel dazu bei, dass wir Londoner allmählich mürbe wurden. Von der fast heiteren Stimmung, der gegenseitigen Hilfe und der Freundlichkeit, die während der Luftangriffe geherrscht hatte, war wenig geblieben. Der Krieg schien sich über viele Jahre in die Länge ziehen zu wollen, der sich verschärfende Mangel an Lebensmitteln und Gebrauchsgütern ging nur noch auf die Nerven, die Rationierung von Seife löste beinahe einen Mütteraufstand aus. Plötzlich wusste ich, wie den Israeliten zumute gewesen war, als die dringendste Gefahr vorüber und der Weg durch die Wüste eintönig geworden war: Das Volk murrte.
Mein vierzehnter Geburtstag verstrich und ich wurde eine »Jugendliche«, ohne mich auch nur im Geringsten bedeutender zu fühlen. In England endete in diesem Alter die Schulpflicht und ich hätte allein um der Abwechslung willen nichts dagegen gehabt, es mit dem Arbeitsleben zu versuchen, aber die Shepards wollten nichts davon wissen. »Deine Eltern würden wollen, dass du weiterlernst«, erklärten sie, und da ich wusste, dass sie Recht hatten, war das Thema sehr schnell vom Tisch. Ich
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