Liverpool Street
Portugal …«
Eine Bewegung ließ mich aufblicken. Hazel stand in der offenen Haustür. »Herrje«, murmelte das Fräulein bestürzt. »Dann gebe ich Ihnen am besten … lassen Sie mich nachsehen … können Sie einen Augenblick warten?«, fragte sie hilflos.
Ich wartete nicht. Ganz langsam ließ ich den Hörer auf die Gabel zurücksinken. »Wahrscheinlich haben sie ohnehin längst Boote rausgeschickt«, sagte ich. »Wenn jeder dort anrufen würde, kämen sie ja gar nicht mehr dazu, die Leute zu retten.«
»Was ist passiert?«, fragte Hazel mit großen Augen.
»Ich weiß nicht.« Ich sah wieder auf das Telegramm und zwang mich, es zu Ende zu lesen. »Hier steht nur, dass das Schiff versenkt und Gary nicht gefunden wurde.«
»Oh Frances, wie furchtbar!« Spontan eilte Hazel auf mich zu und ich trat abwehrend einen Schritt zurück. »Sie haben ihn nur noch nicht gefunden«, wiederholte ich.
»Aber das ist doch auch ziemlich furchtbar«, antwortete Hazel, schlang ihre dünnen Arme um meinen Hals und küsste mich – und plötzlich konnte ich nicht anders, ich musste fürchterlich weinen, obwohl ich doch wusste, dass das alles nicht stimmen konnte.
In den nächsten Stunden löste sich in unserer Küche eine Prozession von Nachbarinnen ab, die unter dem immer gleichen Murmeln Töpfe mit Suppe abstellten. Hazel hielt tapfer mit mir aus, nachdem sie am Telefon kurz mit ihrer Mutter geflüstert hatte. Am Küchentisch sitzend sah ich staunend zu, wie die Suppentöpfe sich vermehrten. Eine nebelhafte Mattigkeit befiel mich, je länger ich dort saß, und auch mit unserem Haus ging bereits jene rätselhafte Verwandlung vor sich, die alle Orte trifft, an denen sich ein Unglück ereignet: Niemand sprach mehr in normaler Lautstärke.
Die Sonne stand schon tief hinter dem Küchenfenster, als Matthew aus dem Schlafzimmer kam. Er hatte rot geweinte Augen und ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte mich in seine Arme geworfen, aber meine Beine fühlten sich an, als gehörten sie mir gar nicht. Langsam und schwer nahm er mir gegenüber Platz, nickte ein paarmal und sagte wie zu sich selbst: »Das war also unser Gary.«
Hazel drückte sich wortlos an mich. Matthew blickte auf und schien erst jetzt zu bemerken, dass sie da war. »Kann Frances ein paar Tage mit zu dir, Hazel?«, fragte er.
»Das hat meine Mutter auch schon vorgeschlagen«, erwiderte Hazel und schlang ihre Finger in die meiner rechten Hand.
»Nein, ich will nicht«, wollte ich sofort protestieren. Doch bevor ich dazu kam, ertönten weitere Schritte auf der Treppe und Amanda betrat die Küche.
»Was ist das?«, fragte sie streng und zeigte auf die Töpfe.
»Das haben die Nachbarn gebracht«, stotterte ich und suchte erschrocken in ihrem Gesicht nach irgendeinem Zeichen der Verbindung, aber da war nichts, nur dieser beherrschte, konzentrierte Ausdruck und müde, trockene Augen, die mich ohne jede Gefühlsregung flüchtig streiften. »Nun, du darfst natürlich davon essen, Frances, aber Matthew und ich werden nichts mehr zu uns nehmen bis zur Ersten Mahlzeit . Ich hoffe, du weißt noch, wem welcher Topf gehört?«
»Nein«, gab ich furchtsam zu und zuckte zusammen, als sie mit ungeduldigem, fast vorwurfsvollem Klappern die Deckel anzuheben begann. Kritisch verzog sie das Gesicht und trug einen der Töpfe zum Ausguss, um ihn mit den Worten »Und das hier ist mit Sicherheit nicht koscher!« ins Spülbecken zu entleeren.
»Ich packe nur schnell ein paar Sachen«, sagte ich leise zu Hazel.
Die Vathareerpurs mussten mit meinem Erscheinen an diesem Abend fest gerechnet haben. Nicht nur hatte Hazels Schwester Jasmin, als ich mit meinem kleinen Gepäck über die Schwelle trat, bereits ihr Bett im Mädchenzimmer für mich geräumt, sondern es gab auch schon eine Strategie für den Umgang mit mir: zu tun, als ob nichts wäre. Hazels Eltern umarmten mich mit Tränen in den Augen, und im nächsten Moment war alles wie immer. Wir saßen am Esstisch, Hazels vier jüngere Geschwister stritten sich, Schalen mit Reis, Fisch und Samosas wurden herumgereicht und ich kämpfte mit einer Art zu würzen, die Mrs Vathareerpur nur von Feuerschluckern gelernt haben konnte. Für ein paar Stunden schaffte ich es tatsächlich, mir vorzuspielen, ich befände mich im normalen Leben.
Doch meine Unruhe wuchs. Mitten in der Nacht schaute Hazel vom Etagenbett herunter und meinte: »Das ganze Bett wackelt, so wie du dich seit Stunden herumwirfst.«
»Es ist einfach nicht
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