Liverpool Street
Ihre Pilze geben«, sagte sie beim dritten oder vierten Mal, als sie uns schon kannte, »können Sie ein paar Küken haben.«
»Küken …!«, muss ich daraufhin so sehnsüchtig gehaucht haben, dass meine Pflegeeltern in schallendes Gelächter ausbrachen.
An diesem Tag fuhren wir mit leerem Rucksack nach London zurück, dafür aber mit einem kleinen, streng duftenden Pappkarton auf meinen Knien, der immer wieder »Witt, witt, witt« machte.
»Ich hoffe für euch, es ist ein Hahn dabei«, brummte Matthew, der lieber die Pilze behalten hätte. »Sonst wird es nämlich nichts mit den Eiern und wir müssen die Damen schlachten.«
»Wehe«, sagte ich finster und umarmte meinen Karton. Zu Hause rief ich sofort Hazel an, die im August nach London zurückgekehrt war, weil ihre Mutter Zwillinge bekommen hatte und Hilfe brauchte. Meine Freundin kam auf der Stelle angeradelt, um – von mir, Amanda und Matthew erwartungsvoll umstanden – unsere kleinen Hühner in Augenschein zu nehmen.
»Es sind zwei Hähne!«, erklärte sie mit Kennerblick. »Wenn beide überleben, könnt ihr einen tauschen!«
»Wenn beide überleben …?«, wiederholte ich erschrocken.
Leider sollte ich nur allzu bald erfahren, was sie damit meinte. Mein erstes Küken begann schon am nächsten Tag zu kümmern, hockte apathisch in einer Ecke des Kartons und war tot und beerdigt, als ich aus der Schule kam. Als das zweite zu kränkeln begann, war ich fest entschlossen zu kämpfen, trug es mit mir herum, um im Ernstfall sofortige Mund-zu-Schnabel-Beatmung zu praktizieren, und nahm es sogar mit ins Bett. Es überlebte das dritte krank gewordene Küken immerhin um ganze zwei Tage.
Nach einer Woche war ich fast so ausgezehrt wie meine Küken, aber das große Sterben hatte ein Ende. Anfang Dezember zogen zwei halbwüchsige Hennen und ein Hahn von der Küche in den Geräteschuppen, spazierten über die wenigen Quadratmeter eingezäunte Wiese zwischen Schuppen und Shelter und warfen listige Blicke auf Amandas Wintergemüse.
Ehrlich gesagt waren wir alle recht froh, dass »Winston«, »Victory« und »Queenie« aus der Küche verschwanden. Man konnte den Raum kaum noch betreten, ohne in die an Bindfäden von der Decke hängenden Trockenpilze zu geraten oder auf Hühner zu treten. Der Geruch beider Unternehmungen zog überdies bis ins obere Stockwerk, so fest wir die Küchentür auch schlossen. Aber nun würden wir bald feststellen können, ob sich die Mühen gelohnt hatten! Voller Vorfreude studierten Amanda und ich schon einmal alle möglichen Rezepte mit Eiern, die von unserer Speisekarte seit geraumer Zeit verschwunden waren.
Was machte eine Familie aus? Waren es die schockierenden Details, auf die ich im Family Doctor unter dem Kapitel »Niederkunft und Wochenbett« gestoßen war? Sie schienen mir eher eine Erklärung für das zwiespältige Verhältnis zu sein, das so lange ich denken konnte zwischen Mamu und mir geherrscht hatte – als ob sie mir nie ganz verziehen hätte, für die schauerlichen Erfahrungen verantwortlich zu sein, die meine Ankunft in der Welt für sie bedeutet haben mussten!
War »Familie« nicht doch viel mehr? Gegenseitiges Vertrauen, das gemeinsame Bestehen von Gefahren, das Teilen von Glück und Unglück und der Erinnerung daran …
Wenn das so war, dann gab es auf die Frage, die zwischen mir und den Shepards schwebte, nur eine einzige mögliche Antwort – und eine Menge neuer Fragen.
Als wir den Friedhof verließen, dunkelte es bereits. Amanda und ich wollten nach Hause vorausfahren, während Matthew half, das Grab zuzuschaufeln. Eine Schiwa würde es nicht geben. Wir hatten den Professor als Großvater adoptiert und jeder der an der Beerdigung Beteiligten hatte uns irgendwie als Angehörige betrachtet, bei der strengen siebentägigen Trauerzeit jedoch hörte die Verpflichtung offenbar stillschweigend auf.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich zusammenzuckte, als jemand in der ruhigen Seitenstraße an uns vorbeifuhr, lachend, hupend und winkend, obwohl wir ihn gar nicht kannten. »Da muss etwas passiert sein!«, meinte Amanda verblüfft.
»Der sah aber ziemlich fröhlich aus! Meinst du, wir haben den Krieg gewonnen?«
Wir sahen uns an. »Nein«, beschlossen wir gleichzeitig. Zu schlecht waren die Nachrichten, die uns schon seit viel zu langer Zeit erreichten! Trotzdem beschleunigten wir unsere Schritte auf dem Weg zur Hauptstraße, und tatsächlich: Auch dort hupten Autos, klingelten Fahrräder und schlugen
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