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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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»Komm, lass uns nach oben gehen. Ich kann Matthew anrufen. Du solltest dich ein paar Minuten hinlegen.«
    »Aber Ziska«, antwortete sie verwundert. »Ich kann mich doch jetzt nicht hinlegen.«
    »Nur einen Moment. Bitte«, wiederholte ich. Noch nie hatte sie mich Ziska genannt. Sie schien nicht einmal mehr sicher zu sein, wer ich war. »Ich gehe mit dir hoch. Wir gehen zusammen.«
    »Na gut. Ich fühle mich tatsächlich ein wenig …«
    »Gib mir die Hand. Nur ein paar Stufen.«
    Schon einmal, in meinem anderen Leben, hatte ich für kurze Zeit gespürt, dass ich stärker sein musste als der Mensch, der mir selbst Halt gab. Mamus Verwirrung, als sie nach Papas Arrest plötzlich allein war und alle möglichen Entscheidungen treffen musste, stand mir auf einmal so klar vor Augen, dass es mir vorkam, als ob sie es wäre, der ich half zu gehen, sich aufs Bett zu legen, die Decke über die Schultern zu ziehen. Doch dann war der Moment vorbei und es war weder Traum noch Erinnerung. In einem jähen, sehr realen Schmerz krümmte sich Amanda zusammen, grub die Finger in die Bettdecke und flüsterte: »Oh mein Gott.« Ich streichelte ihre Wange, ihr Haar, murmelte ihren Namen, hoffte, dass sie anfing zu weinen, aber sie konnte noch nicht. Ich wusste nur zu gut, wie das war.
    Auf der Treppe erklangen leise Schritte und Mrs Beaver erschien in der Schlafzimmertür. »Ich habe den Boten gesehen«, wisperte sie tapfer. »Kann ich helfen?«
    »Können Sie Matthew anrufen? Die Nummer liegt neben dem Telefon.«
    Sie nickte und verschwand. Ich schlüpfte in Amandas Rücken unter die Decke, legte einen Arm um sie und mein Kinn an ihre Schulter, wie sie es so oft bei mir getan hatte. Im Keller des Altenheims, wo es ein paar schmale Pritschen für die Schwestern gab, waren wir oft so eingeschlafen, warm und eingekuschelt, und das Toben nur wenige Meter über uns hatte uns nichts anhaben können. War ich aufgewacht, weil sie wegen eines Patienten aufstehen musste, hatte ich wohlig und schläfrig gewartet, bis sie wiederkam; ich wusste ja, dass sie zu mir zurückkehren würde.
    Doch jetzt, während ich ihren wie erstarrten Körper umarmte, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. Die Liebe zu dieser, meiner zweiten Mutter mochte noch so stark in mir brennen … sie würde vielleicht nicht reichen. Auch Mamu hatte sie nicht gereicht.
    Erst als Matthew nach Hause kam, stumm, blass und gefasst, die Schlafzimmertür fest hinter ihnen beiden schloss und ich mit steifen, unsicheren Schritten die Treppe hinunterging, machte meine Sorge um Amanda ganz langsam jenem anderen Gedanken Platz. Das Telegramm lag immer noch auf der Treppe, niemand hatte es angerührt und ich setzte mich auf dieselbe Stufe, auf der vorhin Amanda gesessen hatte.
    »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …«
    Nein! Verzweiflung, Wut und Auflehnung brachen gleichzeitig über mich herein, ein heißer Schwall von Luftnot, Schwindel und Tränen. Das war unmöglich. Nicht er, nicht mein Bruder, mein wunderbarer, lachender, großmütiger Bruder, der mich als Erster der Shepards geliebt, mir meinen Namen gegeben und »Wörterbuchisch« erfunden hatte, unsere gemeinsame Sprache. Nicht er. Solche Dinge passierten nicht! Unter Aufbietung all meiner Kraft schaute ich noch einmal auf das Telegramm.
    »… dass Midshipman Gary Shepard nach dem Untergang der HMS Princess of Malta am 7. August 1942 vor den portugiesischen Azoren vermisst …«
    Nur vermisst! Die Azoren! Wenn ich die Augen schloss, sah ich die Weltkarte in Mrs Collins’ Klassenzimmer vor mir. Eine ganze Inselgruppe lag zwischen Südeuropa und den USA … da musste es ihm doch gelungen sein, zu einem der Strände zu schwimmen! Wenn nicht, dann trieb er auf einem Rettungsboot oder hielt sich an einer Planke fest. Es war August, die See nicht stürmisch; wenn man sofort Boote hinausschickte, würde man ihn mit Sicherheit finden! Drei Tage auf See, das war so gut wie nichts!
    Ich sprang auf und rannte hinunter zum Telefon. »Vermittlung? Die Royal Navy bitte.«
    »Und wen genau möchten Sie?« Das Fräulein vom Amt ratterte eine Reihe möglicher Verbindungen herunter.
    »Die, die für Schiffbrüchige zuständig sind«, erklärte ich. Am andere Ende entstand eine kurze Pause.
    Dann sagte das Fräulein ärgerlich: »Hören Sie, wenn das ein Witz sein soll …«
    »Ist es nicht! Es geht um meinen Bruder. Sein Schiff ist vorgestern gesunken und jetzt sitzt er wahrscheinlich auf den Azoren fest, das ist vor

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