Liverpool Street
meinen Pflegeeltern sprachen, fest umarmt. Manche von ihnen drückten auch meine Hand. Niemand außer mir schien daran zu denken, dass ich nicht Garys leibliche Schwester war. Es spielte einfach keine Rolle.
Ich hatte die Schwelle überschritten. Meine Arme und Beine, die mich hinübergetragen hatten, wurden mit einem Mal ganz schwer und müde, nicht mehr imstande, sich aus eigener Kraft zu bewegen, und ein gänzlich unerwarteter, tiefer Friede breitete sich über mich. Er war mit nichts vergleichbar, was ich bisher erlebt hatte, außer vielleicht mit der Begegnung meines Vaters am Strand – ein Friede, der nicht aus mir selbst kam. Und ohne jegliches Erschrecken erkannte ich plötzlich, was Gary in seinen letzten bewussten Momenten empfunden haben musste, und dass er uns tatsächlich verlassen hatte. Ich würde ihm nie mehr schreiben. Nie mehr würde ich mit ihm reden, lachen, Geheimnisse teilen, ihn heimlich umschwärmen. Ich würde ihn nicht wiedersehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das gelingen sollte: Gary nicht wiederzusehen. Aber ich wusste jetzt, dass es so war.
Dennoch hätte ich mich ihm nicht näher fühlen können. In diesen Stunden und Tagen wurde ihm Ehre erwiesen; die Anteilnahme und Trauer aller, die zu den Shepards kamen, war echt und ich wünschte, Gary hätte es sehen können. Er war einer der Ihren gewesen, ein »richtiger Jude«, der geliebt und geachtet worden war, der fehlen würde. Ich fühlte diese Freude für ihn.
London, 14. August 1942. Lieber Walter, meinen Brief von vorgestern, in dem ich dir alles erzählt habe, bekommst du wahrscheinlich gleichzeitig mit diesem, den ich einfach nur abschicke, weil ich wünschte, du wärest jetzt hier.
Könnten wir doch nur helfen! Matthew kann gar nicht mehr aufhören zu weinen, sobald die Besucher abends gegangen sind, und um Amanda habe ich richtig Angst. Nichts scheint sie zu erreichen. Ist sie überhaupt noch da? Wir reden über die Leute, die während des Tages hier waren, über die Briefe, die kommen – von den alten Shepards zum Beispiel, ein ganz wundervoller, versöhnlicher Brief, nachdem wir jahrelang nichts mehr von ihnen gehört hatten.
Aber wir reden nicht über Gary. Matthew sagt, dass es in ihr kocht und dass sie zurzeit auch nicht beten kann. »Keine Angst«, sagt er, »sie kommt schon zurück.« Aber hundertprozentig sicher ist er wohl auch nicht, denn gestern ist ihm herausgerutscht, wenn sie keinen Juden geheiratet hätte, hätte sie ein halbes Dutzend Kinder und nicht auf einen Schlag ihre ganze Zukunft verloren.
Letzte Nacht hatte ich diesen verrückten Traum. Das Altenheim war von einer Bombe getroffen und eingestürzt, aus allen Ritzen trat Gas und die Rettungskräfte hatten schon beschlossen aufzugeben. Doch dann kam ich! In letzter Sekunde wies ich auf eine Stelle in den Trümmern: »Dort müsst ihr graben! Dort ist der Gas schutzraum!«
Und nun kommt der schöne Teil: Sie trugen Amanda an mir vorbei und als sie mich entdeckte, ließ sie die Bahre anhalten und sagte: »Frances, du hast mein Leben gerettet, nun gehört es dir!« – »Aber nur im Tausch!«, antwortete ich sofort. »Du hast auch mein Leben gerettet, hast du das vergessen?« – »Ich könnte niemals nehmen, was einer anderen gehört«, sagte sie, und ich, der leider nur im Traum solche Antworten einfallen, erwiderte: »Ich würde es dir nicht anbieten, wenn es so wäre.«
Ich wünschte, ich könnte Amanda auf der Stelle das Leben retten, damit es ihr wieder etwas wert ist und sich dieses Gespräch tatsächlich ereignet. Den ganzen Tag male ich mir alle möglichen Situationen aus, in denen es passieren könnte. In Wahrheit sieht sie mich nicht einmal richtig an, wenn ich mit ihr rede.
Ich vermisse sie so. Ich vermisse sie noch mehr als Gary. Ich will unser Leben zurück! Wie konnte Gott das nur zulassen?
Entschuldige, dass ich dir einen solchen Brief schreibe, aber es gibt außer uns beiden nun niemanden mehr, der den Shepards so nahesteht. Deine Ziska.
Nach dem Ende der Schiwa erwachte ich von Schreien. Zwei Wände und der Flur lagen zwischen uns, ich hätte eigentlich nicht aufwachen dürfen, aber vielleicht hatte ich nach meinen seltsamen Lebensrettungsträumen eine Art sechsten Sinn entwickelt. Ich öffnete meine Zimmertür und lauschte. Amandas Stimme, verzerrt und entfernt, kam aus dem Schlafzimmer und doch wieder nicht. Nach kurzem Zögern blickte ich hinein. Matthew stand im Schlafanzug am Fenster, das Ganze muss ihm vorgekommen
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