Liverpool Street
leise.
»Und eine Sache war ja auch wirklich komisch …«
»Lass mich raten. Matthew mit Schirm?«
Für einen kurzen, hellen, leichten Moment lächelten wir uns an und der Bann war gebrochen, spontan stand ich auf und setzte mich neben sie. Wir umarmten uns lange, schweigend und ohne zu weinen. Sie sagte: »Ich weiß, dass ihr auch um ihn trauert. Ich weiß, dass ich es nur noch schlimmer mache. Ich kann trotzdem nichts dagegen tun. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich je wieder zurechnungsfähig werde …«
Und etwas später: »Hast du gesehen? Gestern war unsere Anzeige in der Zeitung.«
»Ich glaube, die will ich gar nicht sehen«, murmelte ich.
»Gut, so wichtig ist es auch wieder nicht. Ich denke nur, wir hätten es besprechen sollen. Wir haben es gemacht, ohne dich zu fragen, was vielleicht ein Fehler war …«
»Was denn gemacht?«, fragte ich verwirrt.
Amanda stand auf und nahm die Tageszeitung aus einer der Küchenschubladen. »Etwas ziemlich Anmaßendes«, gestand sie. »Aber es war der Abend, an dem wir es erfahren hatten, und Frances, du bist für uns … wir können an dich inzwischen gar nicht mehr anders denken als … kurz gesagt, wenn es dich stört, sieh es einfach als den besonderen Umständen geschuldet …«
»Amanda, was habt ihr gemacht?« , wiederholte ich bestürzt.
Sie legte mir wortlos die Seite mit den langen, viel zu langen Spalten der Todesanzeigen hin und ich beugte mich darüber … da war sie, die Antwort auf meine wichtigste, brennendste Frage, versteckt im letzten Tribut an ihren Sohn.
Midshipman Gary Aaron Shepard,
HMS Princess of Malta,
12. Juni 1920 – 7. August 1942.
Geliebter Sohn von Matthew G. Shepard
und Amanda, geborene O’Leary,
Bruder und bester Freund von Frances.
Verloren auf See.
20
Der dünne Faden aus gegenseitigen kurzen Lebenszeichen, der mich noch mit Mamu verband, riss im Oktober nach einer letzten Rotkreuznachricht, die ich von ihr erhielt. Mein eigener Brief – von einer Antwort konnte man angesichts der vorgeschriebenen höchstens fünfundzwanzig Wörter ja kaum sprechen – kam einige Wochen später zurück, versehen mit der gestempelten Nachricht, dass die Empfängerin unter dieser Anschrift nicht mehr erreichbar sei. Überrascht und beunruhigt wartete ich, dass sie mir ihre neue Adresse zukommen ließ, aber vielleicht gab es an ihrem neuen Wohnort kein Rotes Kreuz. Die Monate verstrichen.
Im Juni 1943 holte ich einen der Helden von El Alamein vom Bahnhof ab – mit sehr flauem Gefühl im Magen, denn mir ging nicht aus dem Kopf, was in den sechzehn Monaten geschehen war, seit Walter und ich uns an derselben Stelle verabschiedet hatten. Meine letzten Worte an ihn, sich nicht abschießen zu lassen und als Held zurückzukommen, erschienen mir im Nachhinein peinlich und ungeheuerlich – von Tobruk über El Alamein bis zum endgültigen Sieg über das deutsche Afrikakorps in Tunis war Walter, dessen Einheit der 8. Armee angehörte, mitten in die mörderischen letzten Schlachten des Wüstenkriegs geraten.
Und auch bei uns wartete wenig Freude auf ihn. Sein Vater lag mit Lungenkrebs im Krankenhaus und es war völlig ungewiss, ob er die Klinik noch einmal würde verlassen können. Dies würde ein Abschiedsbesuch für Walter werden. Und obgleich er bei den Shepards wohnen würde, in seinem und Garys altem Zimmer, konnte der drückende Schatten der Traurigkeit, der unser Haus zehn Monate »danach« noch fest im Griff hatte, auch ihn nicht unberührt lassen. Nein, dachte ich beklommen, wenn ein Heimaturlaub der Erholung dienen soll, dann warten zwei völlig verschwendete Wochen auf ihn!
Schon der Beginn seines Urlaubs war eines Heimkehrers nicht würdig. Als der Zug hielt, strömten Hunderte Soldaten in die Arme ihrer überglücklichen Ehefrauen, Bräute oder Mütter – Walters Empfangskomitee bestand aus einer Fünfzehnjährigen mit Magenschmerzen, die er vier Jahre zuvor in einem Kinderzug kennengelernt und deren Weg den seinen mehrmals auf ungewöhnliche Weise gekreuzt hatte. Das war alles. In der Menge aus Gesichtern und Uniformen entdeckte ich ihn nicht einmal, er musste mir auf die Schulter tippen.
»Ziska?« Ich drehte mich um und blickte direkt in ein sonnenverbranntes, erwartungsvoll lächelndes Gesicht. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du kommen würdest!«
»Hallo, Leichtfuß!«, sagte ich verlegen und überwältigt. »Schön, dich zu sehen! Tut mir leid, dass ich diesmal allein bin.«
Walter schulterte seinen
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