Liverpool Street
in den Garten, um die Hühner zu begrüßen. Er war noch draußen, als Amanda hinunter kam, aber im selben Moment, als sie die Tür öffnen und zu ihm hinausgehen wollte, drückte er von außen dagegen und sie standen sich mit einem Lachen und einem überraschten »Hoppla!« gegenüber.
Amanda trat einen Schritt zurück. »Soso«, sagte sie beinahe scheu. »Soldat Lightfoot!«
Sie musste Sorge vor dieser ersten Begegnung gehabt haben; nicht jeder kam seit Garys Tod mit ihr zurecht. Aber Walter hatte keine Angst, weder vor dem Unglück, das ihr widerfahren war, noch vor ihrem Schmerz und auch nicht davor, ihr seine Liebe zu zeigen. Er breitete einfach wortlos die Arme aus, Amanda verschwand beinahe darin …
… und ich stand wie gebannt mit meinem Teekessel da und wünschte mir, dass er sie nie mehr losließ. In meinem ganzen Leben hatte ich kein tröstlicheres Bild gesehen und dies war ohne Zweifel der Moment, in dem ich meinen alten Freund Walter Lightfoot, vormals Glücklich, mit anderen Augen zu betrachten begann.
Die nächsten Tage waren wie eine Genesung. Von dem großen, freundlichen Walter ging solche Kraft aus, dass unser ganzes Haus spürbar wieder zu Atem kam. Walters Afrika-Erlebnisse schlugen uns völlig in den Bann. Dass er, der nur wenige Jahre zur Schule gegangen war, die schönsten Briefe schrieb, hatte mich schon immer verblüfft, doch selbst das verblasste vor der Wortgewalt, mit der er erzählte. Der heiße, trockene Wüstenwind, der Staub in Nase und Augen, die unfassbare Stille, wenn die Geschütze verstummten, das nächtliche Rascheln kleiner Füße und Pfoten vor dem Zelt, der funkelnde, zum Greifen nahe Sternenhimmel … all das erstand vor unseren Augen, und zum ersten Mal seit langer Zeit waren Amanda, Matthew und ich wieder am selben Ort.
Vielleicht lag es aber auch an Walters unverhohlener Freude, bei uns zu sein. Wir spiegelten uns darin, erinnerten uns; instinktiv suchten wir seine Nähe: Matthew, dem Walter mit großer Begeisterung im Elysée half, Amanda, mit der er Spaziergänge unternahm und stundenlang auf der Bank neben der Küchentür saß, und ich sowieso, der neue, verwirrende Gefühle den Schlaf raubten. Ich war jahrelang in Gary verliebt gewesen und meinte, Bescheid zu wissen, doch was ich nun erlebte, war beunruhigend anders. Wieder und wieder sah ich vor mir, wie Walter Amanda umarmt hatte und stellte mir vor, an ihrer Stelle zu sein; mein Herz zog sich zusammen, mein ganzer Körper schmerzte und ich weinte beinahe vor Sehnsucht. Es war so beschämend, dass ich mit niemandem darüber reden konnte, nicht mit Hazel, nicht mit Amanda. Ich betete, dass es vorüberging … und hoffte doch, dass das nie geschah!
Zum Glück schaffte ich es, mir nichts anmerken zu lassen. Walter zu gestehen, dass ich mich in ihn verliebt hatte, war völlig undenkbar; es hätte alles zunichtegemacht, was uns verband. Dass er sich mir anvertraute, seine Erschütterung über die Krankheit seines Vaters mit mir teilte, dass wir jeden Tag zusammen waren und wie beste Freunde miteinander umgingen … nie hätte ich das aufs Spiel gesetzt.
Meine heftige Eifersucht auf ihn nach der Rückkehr aus Tail’s End war eine so ferne, abwegige Erinnerung geworden, dass ich Walter davon erzählte – nur um festzustellen, dass er es gewusst hatte! »Es war ein Riesenspaß, von dir als Rivale betrachtet zu werden«, gestand er. »Aber ich habe mir nie vorgemacht, einer zu sein. Mrs Shepard mochte mich, aber du warst ihre Kleine. Du warst konkurrenzlos!«
»Heute würde es mir nichts mehr ausmachen, sie mit dir zu teilen«, sagte ich mutig. Aber die darin enthaltene Liebeserklärung ging leider völlig an Walter vorbei und er meinte nur: »Ja, sie kann echte Freunde gebrauchen, nicht wahr?«
Am Freitagabend, nachdem wir aus der Synagoge zurückgekehrt waren, machten Amanda und Matthew Walters Aufnahme in die Familie offiziell, indem sie ihn baten, sie beim Vornamen zu nennen. Eigentlich war es kein großer Schritt, wusste Walter doch längst, dass er bei ihnen ein Zuhause besaß. Doch die Tatsache, dass die beiden Gary verloren hatten und Walter kurz davorstand, seinen Vater sterben zu sehen, verlieh dem Angebot eine viel tiefere Bedeutung. Matthew sprach das Gebet für alles Neue und als er geendet hatte, war es längere Zeit ganz still im Raum.
Ich brach das Schweigen, indem ich sagte: »Hättet ihr, als ihr mich aufnahmt, gedacht, dass ihr einmal alle meine Freunde auf dem Hals haben würdet?
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