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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Professor Schueler, Walter … und auch Bekka, wenn Hitler nicht in Polen einmarschiert wäre.«
    Ich hatte der Situation ein wenig die Spannung nehmen wollen und die anderen gingen auch gern darauf ein, aber zu meiner Überraschung erstickte der Ansatz ihres Gelächters im selben Augenblick, in dem ich Bekkas Namen erwähnte. »Daran sieht man nur, wie du unser Leben bereichert hast«, meinte Amanda, doch ich hatte mit einem Mal das schwindlige, verstörende Gefühl, an etwas Unheimliches gerührt zu haben.
    Hatte es irgendwann eine Nachricht über Bekka gegeben, von der sie mir nichts erzählt hatten? Der Gedanke entsetzte mich so sehr, dass ich nicht zu fragen wagte. Doch aus dem Kopf ging er mir nicht mehr. Ohne es zu wollen, begann ich die Ohren zu spitzen, um mir nicht entgehen zu lassen, worüber sie sprachen, wenn ich nicht dabei war.
    Ich musste nicht sehr lange warten. Die kleine Holzbank, die Matthew in den ersten warmen Frühlingstagen neben der Küchentür aufgestellt hatte, befand sich direkt unter dem Fenster des Elternschlafzimmers. Amanda saß gerne dort, wenn nachmittags die Sonne schien, Walter leistete ihr nun manchmal Gesellschaft und als ich drei Meter über ihnen ans offene Fenster trat, konnte ich ihre leisen Stimmen bestens verstehen.
    Zuerst war es nur Walter, der sprach. »Sie haben Beweise«, sagte er. »Es gibt Augenzeugenberichte. Es gibt Dokumente und Protokolle, unter Lebensgefahr aus Deutschland herausgeschmuggelt. Nicht eindeutig echt, heißt es. Dabei reden Hitler und Goebbels ganz öffentlich von der Vernichtung der Juden.«
    »Es fällt mir schwer, das zu glauben, Walter. Das sind doch Arbeitslager … schrecklich genug, aber doch nicht das …! Niemand kann eine so große Zahl von Menschen verschwinden lassen. Da gibt es Nachbarn, Zugpersonal, Anwohner der Lager …«
    »Versetze sie in Angst und Schrecken und sie werden nichts gesehen haben. Amanda, du hast nicht unter den Deutschen gelebt. Du weißt nicht, wie es vor sich geht.«
    Worüber redeten sie nur? Ich beugte mich ein kleines Stück vor und schaute zu ihnen hinunter. Sie saßen friedlich in der Sonne mit ihren Teetassen in der Hand.
    »Im Altenheim gibt es einen Bewohner, Herrn Becher«, sagte Amanda nachdenklich. »Er bekommt regelmäßig Rotkreuzbriefe von seiner Tochter aus Theresienstadt. Das Rote Kreuz muss also ein Auge darauf haben.«
    »Ich hoffe ja auch, dass es nur Gerüchte sind. Aber Tatsache ist nun einmal, dass unter den freifranzösischen und polnischen Truppen in Afrika jüdische Soldaten waren, die über ganz genaue Details verfügten. Die Résistance hat schon zu vielen Juden zur Flucht verholfen, um nicht zu wissen, wovor sie die Leute retten.«
    Und nach einer langen Pause setzte Walter hinzu: »Die Lager sind über halb Europa verstreut. Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Holland, Russland, Polen, Tschechoslowakei … man weiß, wo sie sind. Und noch etwas … kannst du mir erklären, wozu man Kleinkinder und Alte in Arbeitslager steckt?«
    Mehr hörte ich nicht, und auch die letzten Worte kamen nur noch undeutlich bei mir an. Das lag nicht daran, dass Walter zu leise gesprochen oder einer von ihnen mich bemerkt hätte. Es lag daran, dass meine Ohren beim Wort »Holland« ganz seltsam zu summen begannen und innerhalb von Sekunden taub wurden, dass die Wände um mich ins Schwanken gerieten und ich das Gefühl hatte, vom Boden abzuheben. Ich rutschte an der Wand entlang, bis ich saß, und versuchte Gegenstände im Raum zu fixieren, um wieder ein klares Bild zu bekommen. Kalter Schweiß brach mir aus. Es dauerte vielleicht zwei Minuten. Aber als Amanda etwas später ins Schlafzimmer kam – mit dem aschfahlen Gesicht, das ihre Erschöpfungsattacken ankündigte –, saß ich immer noch dort. Sie sah das offene Fenster und wusste Bescheid.
    »Ich dachte, es ginge um Bekka«, sagte ich, als sie wortlos vor mir in die Hocke ging. »Aber es geht um sie alle , nicht wahr?«
    »Wir wissen es nicht, Liebes.«
    »Ich will es aber wissen! Ich muss es wissen! Wenn es stimmt, was Walter gesagt hat, dann muss die ganze Welt davon erfahren – damit es aufhört!«
    »Du hast Recht. Und selbst wenn es nicht stimmt, muss es an die Öffentlichkeit, damit wir Gewissheit bekommen. Wir sollten keine Ruhe geben, bis wir erfahren, was los ist.«
    »Ich weiß schon lange, dass ich meine Mutter nicht wiedersehe«, murmelte ich, als könnte es mein Entsetzen lindern, wenn ich mir meine größte Angst in

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