Liverpool Street
hinzufügen konnte, mich kühler und ruhiger machte, als baute ich an einer Rüstung gegen die allerletzte Nachricht.
Nur eins gelang mir nicht: Bekka mit all dem in Verbindung zu bringen. Mich hatte ein Zug in ein neues Leben gerettet. Wohin fuhr Bekkas Zug? Die Frage schob ich weit von mir, denn sie schnürte mir die Kehle zu. Es war gänzlich undenkbar, dass ihr etwas zustieß – ihr, die an meiner Stelle in Sicherheit hätte sein müssen.
Trotz all dieser offenen Fragen feierten wir den 12. Juni, Garys Geburtstag, der in Walters Urlaubszeit fiel. Mir war angst gewesen vor diesem Tag – Amanda war es in den letzten Monaten langsam, aber stetig besser gegangen und ich sorgte mich, dass das Datum sie wieder zurückwerfen könnte. Hilflos fragte ich mich, wie ich selbst an den Tag herangehen sollte … sollte ich froh oder traurig sein? Sollte ich mir etwas Besonderes zu Garys Ehren einfallen lassen, obwohl er nicht mehr lebte? Sollte ich den Tag überhaupt erwähnen? Vielleicht war es das Klügste, ihn einfach verstreichen zu lassen.
Schließlich beschloss ich, am Morgen als Erste aufzustehen und den Frühstückstisch ein wenig zu schmücken – nicht zu festlich, aber doch so, dass es vom Üblichen abwich. Die Reaktion meiner Pflegeeltern würde mir dann schon zeigen, wie es weiterging.
Heimlich besorgte ich einen kleinen Strauß Blumen, den ich in meinem Zimmer verstecken und zur Dekoration auseinandernehmen konnte. Meine Jagd nach besonderen Leckereien war weniger erfolgreich, denn die Läden gaben nach fast vier Jahren Krieg einfach nichts mehr her. Es gab keinen Honig, keinen Zucker, keine Konserven, keine Zwiebeln, kein Obst. Immerhin konnte ich unter Opferung all meiner Fleischmarken mehrere Rindswürstchen erstehen, und die Hühner waren so fleißig gewesen, dass wir auf Rührei nicht verzichten mussten.
Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass Amanda ebenfalls früher als sonst aufstand und in meine Vorbereitungen hineinplatzte, als ich kaum mehr gemacht hatte als mein Blumensträußchen aufzuschneiden.
»Ach, Mist!«, sagte ich verlegen und enttäuscht, was nicht unbedingt der Begrüßung entsprach, die sie gewohnt war. Aber zu meiner Erleichterung lachte sie, als sie sah, was ich vorhatte, und ließ mich in die Tüte hineinschauen, die sie in der Hand trug.
Die Tüte enthielt drei kleine Päckchen und mein Gesicht, als Amanda sie auf dem Tisch platzierte, muss wohl ein wenig beklommen gewesen sein, denn sie meinte: »Keine Sorge, ich bin nicht verrückt geworden. Die Geschenke sind für euch.«
»Für uns?«, wiederholte ich verdutzt.
»Frances, heute vor dreiundzwanzig Jahren habe ich meinen Sohn bekommen. Dieser Tag wird für mich immer ein Freudentag sein und wenn ich Gary nicht mehr beschenken kann, dann bekommt ihr eben etwas«, erklärte Amanda so feierlich, als hätte sie es vorher im Stillen geübt, was vermutlich stimmte. Es war das erste Mal seit zehn Monaten, dass sie Garys Namen aussprach. »Hier«, sagte sie ein wenig atemlos und hielt mir das kleinste der Päckchen hin. »Lass mich sehen, ob es dir gefällt.«
In dem blauen Packpapier fand ich ein kleines Schmuckkästchen. »Ich dachte, das könnte gut zu deinem Kreuzanhänger passen«, meinte Amanda und beobachtete mich erwartungsvoll.
»Ein sehr hübsches Kästchen, vielen Dank!«, überspielte ich meine Verlegenheit, drehte es hin und her und bewunderte es ausgiebig, bis sie es mir kurzerhand abnahm und erklärte: »Ich habe es mir anders überlegt. Ich gebe es dir nach der Schule.«
»Nein!«, protestierte ich kichernd, riss das Kästchen wieder an mich, öffnete es – und schlagartig verging mir das Lachen. Auf einem Wattebausch lag das hübscheste Schmuckstück, das ich je gesehen hatte. Es war ein winziger Davidstern mit einem hauchdünnen rotgoldenen Band, das sich um die Zacken rankte – so zart und verspielt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie eine menschliche Hand ein so filigranes Kunstwerk überhaupt hatte erschaffen können. Beinahe erschrocken hielt ich den Atem an.
»Es gibt einen indischen Goldschmied in Camden, einen Onkel von Hazel.« Amanda freute sich über meine Reaktion. »Als ich ihm erzählte, für wen ich ein Geschenk suchte, bat er mich, eine Woche später wiederzukommen. Er hat das extra für dich gemacht, Schatz. Der Stern ist … ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr?«
»Ich kann ihn nicht tragen, Mum. Er ist wunderschön … ich würde ständig Angst haben, ihn zu
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