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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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einem Feuersturm, der mit nichts vergleichbar war, was man in diesem Krieg bisher erlebt hatte. Ich neigte nicht zu Mitgefühl mit den Deutschen, aber als ich die Bilder verbrannter, entstellter, vom Platzen ihrer Lungen aufgeblähter Menschen sah, die in einem unentrinnbaren Inferno aus Flammen und einstürzenden Häusern gestorben waren, überfiel mich eine Welle der Übelkeit. Zum ersten Mal spürte ich, dass da etwas außer Kontrolle geraten war, dass nun auch die Guten in diesem Kampf sich auf eine Ebene begaben, die sie beschädigte und beschmutzte und von der nichts, aber auch gar nichts Gerechtes und Reines mehr ausgehen konnte.
    Und auch ein anderer Gedanke ging mir nach dem Untergang Hamburgs und dem Tod von Herrn Glücklich wieder und wieder durch den Kopf: Walters Vergangenheit war ausgelöscht und die Spuren der Glücklichs würden vom Angesicht der Erde getilgt sein, wenn er den Krieg nicht überlebte.

21
    Je länger der Krieg dauerte, desto schwerer fiel es, sich vorzustellen, dass er je ein Ende nehmen würde. Die Menschen waren der Luftschutzkeller müde, der Sirenen, der Trümmerberge am Straßenrand. Fast drei Jahre nach dem »Blitz« nahmen die Deutschen ihre Angriffe auf London wieder auf – als Vergeltung für Nürnberg, München, Berlin, wie es hieß –, und auch wenn sie längst nicht die zerstörerischere Kraft der ersten Luftschlacht entfalteten, war die Wirkung niederschmetternd. Vielleicht würden wir eines Tages gar nicht mehr wissen, wie man mit einem Nicht-Krieg zurechtkam, wie man nachts durchschlief, ohne Lebensmittel- und Kleidermarken einkaufte, Pläne für die Zukunft machte – oder auch nur, wie es in London vor der Verdunkelung ausgesehen hatte.
    Das schwache Lämpchen meines Fahrrads war in jener Nacht das einzige Licht auf der Straße. Die Laternen waren schon im fünften Jahr abgeschaltet, die Vorhänge in den Häusern fest zugezogen. Meine Augen – längst daran gewöhnt, sich bei Nacht zurechtzufinden – erinnerten sich an nichts anderes mehr. Keine schlechte Voraussetzung für eine Luftschutzbotin, wie ich fand!
    Die Zentrale der Air Raid Patrol befand sich in meiner ehemaligen Schule und ich liebte es, in meinen Dienstnächten hinaus auf den Gang zu gehen, die Nachrichten am Schwarzen Brett zu lesen oder mich in eins der Klassenzimmer zu setzen. Einmal entdeckte ich Mrs Collins’ Handschrift an der Tafel und schrieb einen kurzen Gruß darunter. Mrs Collins war seit dem letzten Sommer wieder in London, durch meinen Wechsel an die Secondary School hatte ich das Wiedersehen verpasst, aber ihre alte, vielbenutzte Weltkarte erkannte ich sofort. Statt einzelner Soldatenfähnchen waren nun die zahlreichen Orte markiert, an denen britische Divisionen kämpften. Als ich mich vorbeugte und die Aufschriften las, entdeckte ich tatsächlich auf der Strecke zwischen Neapel und Rom das Fähnchen der 8. Armee! Montecassino im Liri-Tal, unwegsames Gelände, Kälte, Matsch und Schnee; Soldaten aus fünfzehn Nationen im erbitterten Kampf um einen Berg, auf dem wie eine Trutzburg ein riesiges Kloster saß … Walter hatte es in seinen Briefen so genau geschildert, dass ich aus Nebelwolken Mauern aufragen sah, grau, düster, Unheil verkündend und möglicherweise auch uneinnehmbar. Die Deutschen hatten sich dort oben verschanzt und alle Bewegungen am Berg genau im Auge.
    Mit gewohnter Gründlichkeit hatte Mrs Collins an jeden einzelnen Kriegsschauplatz ein beschriftetes Fähnchen gesteckt, England dabei jedoch vergessen, was ich nicht wenig befremdlich fand. Waren wir etwa kein Kriegsschauplatz? Wurde nicht auch hier gekämpft – von der Home Guard, ARP, WAAF, von Freiwilligen wie mir? Kurz entschlossen hatte ich aus dem Dienstraum eine Stecknadel und Papier entwendet, ein Fähnchen mit der Aufschrift Heimatfront an Mrs Collins’ Weltkarte gepinnt – und nun freute ich mich jedes Mal zu sehen, dass es noch steckte! Ob sie wohl ahnte, dass es von mir stammte?
    Unbekümmert streckte ich die Beine aus und ließ das Rad einen kleinen Hügel herunterrollen. Etwas huschte vor mir über die Straße – eine Katze? Ein Marder? Im Sommer des ersten »Blitzes« hatte man wochenlang keinen einzigen Vogel in unserem Garten gehört, doch jetzt ließen sich die Tiere vom Krieg nicht mehr beeindrucken und gingen wie gewohnt auf Streifzug. Spürten sie, dass die Gefahr für heute vorüber war? Nur selten hatten die deutschen Bomber noch die Kraft für eine zweite Angriffswelle und

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