Liverpool Street
Erinnerung rief.
Doch Amanda erwiderte ruhig: »Dann muss ich dir sagen, dass es mir umgekehrt geht. Seit Jahren fürchte ich den Tag, an dem ich dich zurückgeben muss, und jetzt gerade spüre ich sehr deutlich, dass dieser Tag kommen wird.«
Verblüfft sah ich sie an, wollte sofort antworten: »Egal was passiert, du kannst mich gar nicht mehr zurückgeben!«
Doch etwas hielt mich davon ab. Wo immer Mamu war, sie musste in schrecklicher Angst sein und das Letzte, was sie jetzt brauchte, waren solche Worte von mir – Worte, die eben noch völlig selbstverständlich geklungen hätten, aber plötzlich nach Verrat schmeckten.
»Nicht, dass meine Vorahnungen sich irgendwie bewährt hätten«, fügte Amanda mit einem Anflug von Bitterkeit hinzu, »aber solange wir nichts Konkretes wissen, gibt es keinen Grund, die Hoffnung zu verlieren. Dass das Rote Kreuz nicht weiß, wo deine Mutter ist, kann auch bedeuten, dass sie sich versteckt hält.«
»Ich muss mit Walter reden«, sagte ich. »Er muss mir alles erzählen, was er weiß.«
Wer fragt, bekommt Antwort – diese simple Weisheit bewahrheitete sich in den nächsten Tagen, und wenn man einmal zu fragen begann, war es nicht einmal schwer, an Antworten zu kommen. Die Transporte von Juden durch halb Europa waren nicht das große Geheimnis, für das ich sie gehalten hatte, sie waren bloß kein Thema für die Öffentlichkeit. Der Schriftsteller Thomas Mann, der aus dem Exil Rundfunkansprachen an deutsche Hörer der BBC hielt, hatte schon ein Jahr zuvor über Massenmorde an polnischen Juden gesprochen. In Holland und Frankreich, woher Walters Informationen stammten, fanden regelmäßig Razzien statt, bei denen Juden zusammengetrieben wurden; in Amsterdam wurden sie in Straßenbahnen unter aller Augen zum Zentralbahnhof gefahren, wo die Züge in das Konzentrationslager Westerbork warteten. Um die Juden auszusondern, zwang man sie, einen gelben Stern an ihre Kleidung zu nähen.
Doch was danach mit den Menschen passierte, war unklar. Es kursierten verschiedene Behauptungen: Zwangsarbeit in Arbeitslagern, Umsiedlung in Ghettos, sogar von der Abschiebung in einen Südseestaat war die Rede. Man hörte von Lagern, in denen Häftlinge sich selbst überlassen wurden, bis sie an Seuchen erkrankten, verhungerten oder Selbstmord begingen.
Andere Gerüchte wollten wissen, dass ganze Familien einfach ins Nichts fuhren; sie stiegen in einen Zug, aber kamen nirgendwo an. Man munkelte von Giftgas. Diese Gerüchte waren so wild und unglaubwürdig, dass viele Bekannte aus der jüdischen Gemeinde gar nicht darüber reden wollten. »Wir Juden sollten nicht zu viel Wirbel machen«, hieß es, und dass Großbritannien doch bereits gegen Deutschland kämpfe – was sollte es denn unserer Meinung nach noch tun?
Zu den wenigen, die wie wir Briefe an Zeitungsredaktionen und Parlamentsabgeordnete zu schreiben begannen, um auf unsere Fragen aufmerksam zu machen, gehörte Mrs Kaminski, die mit Amanda im Altenheim arbeitete. Sie erhielt ebenfalls Rotkreuzbriefe von einem Cousin aus Theresienstadt, doch jeder Einzelne endete mit den Worten: »Grüße von Jossi.« Jossi war der Bruder des Cousins, der dreißig Jahre zuvor bei einem Pogrom in Polen erschlagen worden war.
Das Echo auf unsere Schreiben blieb verhalten. Die Zeitungen waren in diesem Sommer voll grimmig begeisterter Berichte über das deutsche Scheitern an der Ostfront, über die Einsätze britischer und amerikanischer Bomber gegen deutsche Städte. Wenn überhaupt etwas zur Lage der Juden zu finden war, dann war es in der Regel mit dem Zusatz versehen: »Jüdische Organisationen berichten …« Es klang, als ob es sich um Dinge handelte, die nur uns etwas angingen, und von denen niemand außer uns überhaupt gehört hatte.
Auch auf mich hatten all diese Informationen, nachdem der erste Schock vorüber war, einen ernüchternden Effekt, als hätte ich es mit einer Mathematikaufgabe zu tun: der Addition von Fakten zu einer festen Größe, die alle Emotionen außer Kraft setzte. Ich wog ab, was mir zu Ohren kam, hoffte, dass nichts davon stimmte, rechnete mit dem Schlimmsten oder dem, was ich damals dafür hielt – Hunger, Krankheit, Lebensgefahr durch alle möglichen Arten von Willkür. Ich lebte schon zu lange mit dem Verlust meiner Mutter, um ihren Tod für ausgeschlossen zu halten. Nach all den Ängsten, die ich in der Vergangenheit ausgestanden hatte, merkte ich nun, wie jedes neue Puzzleteil, das ich dem Gesamtbild
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