Liverpool Street
verlieren!«
»Dann müsstest du auch Angst um dein Kreuz haben, denn du hast es von deiner Mutter bekommen! Darf ich?«
Sie trat hinter mich, löste den Verschluss meiner Kette und ließ sich von mir den Stern reichen, um ihn zu dem Kreuzanhänger hinabgleiten zu lassen. Die leichte, liebevolle Berührung in meinem Nacken ließ mich sofort an Mamu denken und an den Tag unseres Abschieds, als sie mir die Kette geschenkt hatte.
»Jetzt trage ich meine beiden Mütter um den Hals!«, sagte ich halb im Scherz, als wir vor dem Spiegel die vollkommene Harmonie von Kreuz und Stern bewunderten.
»Du liebe Zeit, hoffentlich nicht!«, meinte Amanda schaudernd und drehte mich zu sich um. »Schatz, ich danke dir für das letzte Jahr. Für deine Liebe, deine Geduld, deinen Mut … ist dir aufgefallen, dass du angefangen hast, mich Mum zu nennen, als ich am wenigsten für dich da war? Stattdessen hast du für mich gesorgt. Ich glaube, dir ist gar nicht bewusst, wie stark du bist, Frances.«
»Falls das stimmt, dann verdanke ich es dir, also tu mir den Gefallen und hör auf, dich zu bedanken!«, erwiderte ich irritiert. »Das ist mir nämlich peinlich, weißt du?«
»Ja, das habe ich befürchtet. Ich tue es trotzdem, damit du es dir nachher im Stillen durch den Kopf gehen lassen kannst und dich doch noch darüber freust! So, und jetzt lass uns den Frühstückstisch decken, du hast nämlich nur noch eine Stunde bis zum Schulbeginn!«
»Ach«, maulte ich, »muss ich heute zur Schule? Ich hatte gehofft, wir unternehmen etwas!«
»Das tun wir auch, und zwar heute Abend. Frances, ich muss schon sagen, es wird Zeit, dass der Krieg ein Ende nimmt und ihr Kinder aufhört, ständig diese seltsamen Fragen zu stellen! Muss ich heute zur Schule? «, ahmte sie mich in weinerlichem Ton nach.
»Manchmal«, gab ich zurück, »bin ich gar nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll, dass es dir wieder so gut geht, Mum.«
Boot fahren im Regent’s Park wie vor vier Jahren kam als Geburtstagsprogramm natürlich nicht mehr infrage – undenkbar, dass einer von uns je wieder Lust auf irgendetwas haben würde, was mit Schiffen zu tun hatte! Stattdessen fuhren wir zu einem Symphoniekonzert mit wundervoller Akustik in einem großen Bombenkrater, bei dem man auf den Mauerresten ringsum sitzen und sein Picknick verzehren konnte. Über den Trümmern ging, während wir der Musik lauschten, ein rötlicher Abendhimmel langsam in die Nacht über; die scharfzackigen Mauern, die sich groß und dunkel gegen den Himmel abhoben, bewachten uns. Die Luft wurde kristallklar und kühl, wir kuschelten uns in die mitgebrachten Decken und hielten nach den ersten Sternen Ausschau.
»Leg deine Hand auf die Steine«, flüsterte Walter mir zu. »Dann kannst du die Musik spüren!«
Ich legte meine Hand neben seine und fühlte ein zartes Vibrieren, ein Echo der Musik in den Mauersteinen, aber auch die Wärme, die von Walters Hand ausging. Ungefähr drei Sekunden hielt ich das aus, dann zog ich meine Hand hastig zurück – halb erleichtert und halb in dem Wissen, mich anschließend sofort darüber zu zermürben.
Es war aber auch zu dumm, dass mir das passieren musste! Hatte ich mir nicht geschworen, mich niemals in Zeiten des Krieges zu verlieben? Noch drei Tage, dann muss Walter wieder an die Front, dachte ich. Wäre er doch schon weg …!
Dieser furchtbare, unverzeihliche Gedanke erschütterte mich so sehr, dass ich mich instinktiv an Amandas Schulter lehnen wollte – und gerade noch rechtzeitig merkte, dass ich es nicht konnte, denn sie lehnte bereits an Matthew und ich wäre mir nur restlos lächerlich vorgekommen. Außerdem wurde ich womöglich langsam zu alt, um mit Mum zu kuscheln.
Da saß ich nun erbittert in den Trümmern, liebte zu viele Menschen, dafür dass Krieg war, und hatte dennoch keine Schulter zum Trost.
Drei Tage später ging der Krieg für Walter weiter; die 8. Armee landete in Sizilien, um mit den Amerikanern eine »Zweite Front« gegen Deutschland zu eröffnen. Für kurze Zeit gelang es mir tatsächlich, nicht daran zu denken, was ihn nun erwartete, dann zeigte die Wochenschau erste Bilder von der Invasion Italiens und ich merkte, dass Liebe und Sorge sich nicht befehlen lassen.
Herr Glücklich, der zu bescheiden gewesen war, um Krankenbesuche von jemand anderem als seinem Sohn zu wünschen, starb im Juli allein in einem Londoner Krankenhaus. Zur gleichen Zeit gingen Bombenteppiche über Hamburg nieder und versank die Stadt in
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