Liverpool Street
schließen und renovieren müssen«, meinte Walter, als er den Schaden sah.
Wir! , dachte ich überglücklich und hatte einmal mehr ein kleines Wort, das ich stunden-, ja tagelang drehen, wenden und auf eine Vielzahl von Bedeutungen hin würde auslegen können!
Schnell verfielen wir in die gewohnte Routine: Ich fegte den Saal und öffnete die Kasse, Walter wechselte eine Glühbirne im Foyer, stellte sich an den Eingang, um Eintrittskarten abzureißen, und verschwand schließlich im Vorführraum. Nachdem ich noch einige späte Gäste eingelassen hatte, griff ich nach der Trittleiter, um sie in den Raum hinter der Leinwand zurückzubringen.
Wie immer dachte ich an Gary, sobald ich durch die Tür trat. Dies war der Raum, in dem ich noch manchmal um ihn weinte, in dem die Trauer nahe und überwältigend war wie nirgendwo sonst. Sie hing in den Vorhängen, in den körnigen Vertiefungen der Leinwand, in jeder Rille des Fußbodens. Die Stühle, auf denen wir gesessen hatten, als er von seinem Tod gesprochen und mir unsere Eltern anvertraut hatte, standen abseits im Dunkeln, aber ich hätte sie jederzeit nehmen und hinstellen können wie damals. Einander zugewandt, aber doch nicht ganz. Garys Stuhl hatte ein wenig zur Seite geblickt, als hielte er bereits Ausschau nach dem Weg hinaus.
Ich wusste, wie seine Eltern darunter litten, dass man ihn nie gefunden hatte, dass es weder einen sichtbaren Beweis für seinen Tod noch ein Grab gab, wo sie nach dem jüdischen Brauch kleine Steine ablegen konnten. Ich hatte Amanda zu Onkel Erik sagen hören, sie rechne noch immer halb damit, dass alles nur ein Irrtum sei und er plötzlich in der Tür auftauchte; sie sei wider alle Vernunft noch immer darauf vorbereitet, dass es eines Tages genauso passieren würde. Ich war die Einzige aus unserer Familie, die für Gary einen Ort des Abschieds hatte.
Was er wohl zu meinen Gefühlen für Walter gesagt hätte? Wie ich ihn kannte, hätte er die Angelegenheit sofort in die Hand genommen. Er hätte Walter beiseitegewunken und ich konnte beinahe hören, wie er ihm zuraunte: »He, alter Junge, worauf wartest du eigentlich?«
Plötzlich musste ich lachen. Es wäre einfach zu schön gewesen, jetzt einen großen Bruder zu haben! Mit einem liebevollen Blick auf die beiden Stühle in der Ecke stellte ich meine Leiter ab und merkte, wie mir ungewohnt leicht ums Herz wurde, als hätte sich bereits etwas verändert, als steckte nicht mehr nur Trauer in der Erinnerung.
Die Bilder und Töne der Wochenschau nahm ich erst im Hinausgehen wahr. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte ich die schon allzu gut bekannten Motive: immer gleiche graue Trümmerwüsten, die einmal deutsche Städte gewesen waren. Nur selten ragte etwas daraus hervor, was sie jetzt noch voneinander unterschied – die Überreste einer bekannten Kuppel, einer Brücke, eines Kirchturms. Magere, zerlumpte, misstrauische Menschen bewegten sich hastig vorwärts, als gäbe es inmitten der Zerstörung noch ein Ziel. Wahrscheinlicher war, dass sie einfach nicht gefilmt werden wollten in ihrer Schande.
Nur ein schmutzstarrendes kleines Mädchen von etwa drei Jahren zog spontan seine Hand aus der seiner Mutter, als es die Filmkamera entdeckte, blieb wie angewurzelt stehen und brach in ein seliges, vollkommen unversehrtes Lächeln aus. Energisch packte die Mutter den Arm des Kindes und zog es weiter, allerdings nicht, ohne dem Kameramann einen halb verschmitzten, halb vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, der erkennen ließ, wie jung sie war.
Die Schwester, nicht die Mutter. Mein Herz stand still. Es war nicht nur der Blick, es war die Haltung der Schultern, an der ich sie erkannte. Gerade. Ungebeugt. Es bedurfte einer stärkeren Macht als der der Nazis, um Rebekka Liebich zu vernichten. Ich hatte es immer gewusst.
»Ziska!« Walter sah mich erschrocken an, als ich die Treppe zur Vorführkabine hinaufstolperte. Draußen auf dem Gang waren die Worte fast aus mir herausgebrochen, ich hätte sie laut schreien können, nun stand ich da und sie schnürten mir die Kehle zu. »Ziska«, sagte Walter noch einmal und kam auf mich zu.
»Ich habe Bekka gesehen«, stammelte ich. »Sie lebt!«
Er breitete stumm die Arme aus und ich lief hinein, ohne nachzudenken, spürte seinen rauen Wollpullover an meiner Wange und darunter einen schneller werdenden Herzschlag, den ich einen ersten verdutzten Augenblick für meinen eigenen hielt. Eine Hand streichelte mein Haar, meinen Nacken, dann hob sie mein
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