Liverpool Street
Aber ich weiß nicht, ob sie darauf vorbereitet ist, dass es in deinem Leben außer ihr jetzt noch andere Menschen gibt.«
»Du hast Recht. Ach, Onkel Erik!« Ich umarmte ihn stürmisch. »Es tut mir so leid, was passiert ist und dass du so lange auf deine Rückkehr warten musstest … aber ich bin froh um jeden Tag, den du hier warst! Und ich habe nie vergessen, dass du es warst, der damals unserem Zug gewinkt hat. Du warst unser Abschied, um den sie uns betrogen haben!«
»Ich habe es auch nicht vergessen.« Er klopfte mir auf den Rücken, hielt meine Umarmung ein paar Sekunden aus und machte sich dann freundlich von mir los. »Und jetzt lass uns hinausgehen und feiern, dass die Zeit der Abschiede endlich vorbei ist.«
Dass dieser Tag kommen würde, hatten wir seit Monaten gewusst. Eine deutsche Stadt nach der anderen hatte kapituliert, manche kampflos, viele andere nach sinnlosen, ungleichen Verteidigungsschlachten, in die Hitler sein letztes Aufgebot aus halbwüchsigen Jungen und alten Männern geworfen hatte, bevor sich »der größte Feldherr aller Zeiten« im Bunker der Reichskanzlei erschoss. Walter war im März nach Lübeck abkommandiert worden, wo man deutschsprachige Verbindungsleute zwischen der britischen Kommandantur und der Bevölkerung brauchte. Die große Zahl der Volksgenossen, die Juden versteckt und »stillen Widerstand« geleistet haben wollten, erstaunte ihn Tag für Tag aufs Neue.
Walter konnte es kaum abwarten, aus Deutschland herauszukommen. Lügen und Zerstörung deprimierten ihn, das Mitleid mit den Kindern, die oft völlig auf sich gestellt zwischen Trümmern hausten, ebenfalls – dass er als Jude solche Gefühle hegte, nachdem die Nazis Hunderttausende jüdischer Kinder umgebracht hatten, kam ihm ungeheuerlich vor. Nach Hamburg zu fahren, seine alte Heimatstadt, brachte er nicht fertig. Walter war gern Soldat gewesen, doch wenige Wochen in Deutschland hatten bewirkt, dass er nur noch einen einzigen Wunsch hatte: die Uniform abzulegen und den Krieg hinter sich zu lassen.
Was danach kam, war Gegenstand pausenloser Spekulationen – im Hause Vathareerpur! Walter war mit dem 21. Geburtstag britischer Staatsbürger geworden, trug mit Stolz seinen neuen Pass und Hazel und ihre Mutter erwarteten, dass er mir demnächst die Frage stellte, wie sie es nannten. Ich selbst war weder so überzeugt noch so hingerissen wie meine Freundin; kaum war Walter nach unseren ersten sechs Tagen als Liebespaar abgereist, hatten mich die üblichen Zweifel befallen und ich hoffte, dass er uns mit der Frage noch viel, viel Zeit ließ. Ich vermisste ihn sehnsüchtig; ich konnte mir bestens ausmalen, mit ihm unter die Chuppa zu treten und eine ausgelassene jüdische Hochzeit zu feiern. Wenn ich anschließend in mein trautes kleines Zimmer bei Amanda und Matthew hätte zurückkehren können, wäre ich sofort dabei gewesen.
Aber eine Hochzeit bedeutete nicht nur ein Fest und ein Versprechen. Sie bedeutete einen eigenen Hausstand, eigene Kinder und Verantwortung, für die ich mich keineswegs bereit fühlte – selbst wenn ich noch so oft davon träumte, über die Briefe staunte, die Walter mir jetzt schrieb, sie mit tiefem Glücksgefühl wieder und wieder las … und niemandem mehr zeigte! Hazel und ich kannten mehrere Mädchen unseres Alters, die bereits verlobt oder verheiratet waren, darunter unsere Freundin Emma aus Tail’s End. Nur mir fehlte wieder einmal der Mut und ich tat, was ich am besten konnte: Ich schob es auf.
Nach der Schule! Mit neunzehn! Auch Amanda war bei ihrer Hochzeit neunzehn gewesen; in ihrer Rührung über Walter und mich hatte sie mich in ihre eigene Liebesgeschichte eingeweiht und ich traute mir mit neuer, schwacher Hoffnung zu, irgendwann in den nächsten zwei Jahren ebenfalls jene mysteriöse Passage zu durchschreiten, die die Frau in mir weckte. Dass etwas da war, das geweckt werden wollte , war nicht von der Hand zu weisen, aber vorläufig klammerte ich mich an die zwei zusätzlichen Jahre auf der Oberschule, die mir vergönnt sein würden, wenn ich im Sommer meine Abschlussprüfung bestand, wie an den einzigen Rettungsring inmitten eines Ozeans weitreichender Entscheidungen.
Umso mehr, als das Kriegsende, kaum waren die Feierlichkeiten vorbei, mich in einen neuen, gänzlich unerwarteten Zwiespalt stürzte. Jahrelang hatten wir uns danach gesehnt, auf nichts anderes hingelebt, nun kam und ging es mit atemberaubender Geschwindigkeit, die Londoner kehrten zum Alltag zurück,
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