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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Kinn.
    Wärme. Überraschung. Erkennen. Hazel hatte mir verraten, dass sie auf ihrem eigenen Unterarm das Küssen übte. Wenn ich je wieder zum Denken kam, dann dachte ich hoffentlich daran, ihr zu sagen, dass sie das getrost aufgeben konnte!
    »Sie ist es. Ich bin sicher! Natürlich ist es schwer zu sagen, es geht so schnell …«
    »Und jetzt? Wenn ich das Bild anhalte?«
    Es war halb elf, wir standen am Fenster der Vorführkabine und starrten über leere Sitzreihen hinweg auf die Leinwand. Wieder und wieder spielten wir zwei Sekunden Wochenschau.
    »Zu dumm, dass sie nicht sagen, um welche Stadt es sich handelt«, meinte Walter. »Es ist irgendwo im Ruhrgebiet, so viel steht fest.«
    »Das Ruhrgebiet … warum nicht? Bestimmt war das sicherer als Berlin, wo alle Nachbarn sie kannten und wussten, dass sie Juden sind. Frau Liebich ist so alt wie Mamu, Anfang vierzig, sie könnte durchaus noch ein Kind bekommen haben. Und die Kleine sieht aus wie Bekka auf unseren Fotos vom Kindergarten!«
    »Dann ist es gut? Dann bist du sicher?«
    »Ja, bin ich. Wir können nach Hause gehen.«
    Wir gingen im einsetzenden Schneeregen zur U-Bahn, denselben Weg, den wir erst vor wenigen Stunden und schon so oft zurückgelegt hatten. Dennoch kam mir die Straße, kam mir ganz London völlig verändert vor, nun wo mein Kopf im Gehen an Walters Schulter lehnte und er den Arm um mich gelegt hatte, zum ersten Mal. Man ging vorsichtiger, wenn man zu zweit ging. Man musste aufeinander achten, sonst geriet man aus dem Tritt oder verlor den Halt.
    Ganz auf Walter konzentrieren konnte ich mich trotzdem nicht. »Bekka kommt zurück«, wiederholte ich, und ich beschwor es ein weiteres Mal, als wir in die Bahn einstiegen. »Wir sehen uns wieder. Sie ist die Einzige, von der ich es die ganze Zeit gewusst habe.«

22
    »Das müssen Zehntausende sein!« Hazel brüllte mir direkt ins Ohr, denn der Lärm der Menschenmassen, die sich die Mall entlang auf den Buckingham Palace zuschoben, war unbeschreiblich. Die Leute sangen und jubelten, der Verkehr war vollständig zum Erliegen gekommen und ab und zu streifte mich einer der zahlreichen Union Jacks, die vor und neben uns ausgelassen geschwenkt wurden. Amanda und ich hatten auch einen vors Fenster gehängt, nachdem wir die Nachricht im Radio gehört hatten. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass die Shepards eine britische Flagge besaßen! Versteckt in Matthews Rucksack aus dem vorigen Krieg, hatte sie auf diesen Einsatz gewartet – fast sechs Jahre lang.
    Die Deutschen hatten die Kapitulationsurkunde unterzeichnet. Für die Menschen in Europa war der Krieg zu Ende. Keine Bomben und Raketen mehr, kein Fliegeralarm, keine Nächte in Kellern, Bunkern und U-Bahn-Schächten, keine Furcht mehr vor dem Telegrammjungen. Es war Frühling, Lachen und Musik. Der Pazifik, wo die Kämpfe weitergingen, hätte an diesem Tag nicht weiter entfernt sein können.
    »Der König! Der König!« Noch lauterer Jubel brandete auf und tatsächlich, auf dem Balkon des Palastes waren einige helle und dunkle Punkte zu erkennen: das Königspaar, die beiden Prinzessinnen, der Premierminister. »God save the King!« Sofort fielen Tausende ein. Alte Männer, aber auch viele Frauen bedeckten ihr Herz mit der rechten Hand und weinten.
    Das alte Empire hatte standgehalten. Es hatte gewankt, gelitten und geblutet, doch es stand, der Schrecken war vertrieben, wir waren frei. Glocken läuteten überall in der Stadt und in den Gesichtern der Älteren sah ich, wie sie auch auf die schmerzlichen Lücken horchten, Klänge, die über Jahrhunderte zum Stadtbild gehört hatten und nun fehlten: St. Dunstan, St. Clement Danes, St. Alban, St. Augustine, St. Mildred, St. Stephen, St. Swithin …
    Und plötzlich wusste ich, dass viele in der jubelnden Menge noch einmal zu trauern beginnen würden, sobald die Siegesfeiern vorbei waren. Dass auch für mich dieser 8. Mai ein bitteres Datum bleiben würde: das Ende des Krieges, aber nicht der Wunden. Ich hatte Hoffnung für Mamu und Tante Ruth, mehr noch für Bekka. Aber Gary und mein Vater kamen nicht zurück.
    Im Harrington Grove ging die Feier weiter. Aus sämtlichen Häusern wurden Tische und Stühle auf die Straße getragen, Lampions und Fahnen aufgehängt; selbst ein Klavier hatte jemand herausgeschleppt. »Bleibst du?«, fragte ich Hazel, aber die winkte ab: In ihrer eigenen Straße würde es ebenfalls noch eine Party geben.
    Wir küssten uns zum Abschied auf die Wangen. Ich sah nicht

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