Liverpool Street
mehr viel von Hazel, seit sie im Telegrafenamt arbeitete und ich die letzte Klasse der Secondary School besuchte, aber bei jedem besonderen Anlass war es selbstverständlich sie, mit der ich mich verabredete. Meine Freundin für den Krieg, der nun vorüber war! Ich musste lächeln, als ich ihr nachwinkte. Unsere damalige Vereinbarung war schon so lange überholt, dass es albern gewesen wäre, sie an diesem Tag offiziell zu korrigieren. Wir wussten, dass wir Freundinnen bleiben würden.
»Der gute Erik ist schon oben und packt«, klang mir Amandas Stimme aus der Speisekammer entgegen, wo ich sie kramen und räumen hörte. Sie reichte mir einige Pappschachteln hinaus, als ich neugierig in den winzigen Raum blickte. »Hältst du das mal? Niemals bekommt er diese Woche noch eine Überfahrt, aber ich kann reden, bis mir die Zunge abfällt, er will keine Minute länger warten. – Ah …! Da ist es ja!«
Sie zog eine braune Kladde aus dem Regal und pustete mir die dünne Mehl- und Staubschicht entgegen, die am Buchdeckel haftete. »Dein Gartenbuch?«, fragte ich verblüfft.
»Ja! Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Versorgung sich normalisiert, aber ich dachte, wir könnten in der einen oder anderen Ecke schon einmal anfangen …«
»Und woher willst du jetzt Blumen bekommen?«
Amanda schüttelte tadelnd den Kopf, öffnete eine der Pappschachteln und ließ mich hineinsehen. »Du glaubst doch nicht, dass ich meine wertvollsten Schätze einfach auf den Kompost geworfen habe!«, meinte sie und zupfte aus dem Sortiment beschrifteter Pergamentpapiertütchen ein Einzelnes hervor, das winzige braune Samen enthielt. »Verflixt. Wenn die Deutschen ein paar Wochen früher kapituliert hätten, hätte ich noch Petunien setzen können.«
Ich starrte sie an. »Es ist vorbei. Es ist wirklich vorbei!«
Amanda lachte. »Ich hatte Angst, du könntest dich gar nicht freuen«, sagte ich leise.
Sie klappte die Schachtel wieder zu und wandte sich ab. »Ich freue mich für dich, Frances«, erwiderte sie knapp. »Für euch jungen Leute. Euch ist so viel genommen worden! Wenn du mich fragst, können wir gar nicht genug feiern, dass das alles endlich vorbei ist.«
Mit einem Stich im Herzen sah ich, was sie bereits für das Straßenfest vorbereitet hatte: eine Platte Sandwiches und einen Kuchen in Form des Victory-Zeichens, mehrere Kannen gekühlten Tee unserer Hausmarke »Shepards’s Delight« und einige Bänder und Tücher als Tischschmuck. Amanda hatte sich entschlossen, diesen Tag als Neuanfang zu begehen, und so bitter und untröstlich sie insgeheim sein mochte, sie würde es von nun an nicht mehr verraten.
Onkel Erik ging in dem Zimmer umher, das erst Gary, später Walter, dann ihm gehört hatte, und sammelte ein, was er besaß: Kleidungsstücke, ein paar Bücher und die kleinen Geschenke, die er in den letzten acht Monaten von meinen Pflegeeltern und mir bekommen hatte. »Warum nimmst du deine Wintersachen mit?«, fragte ich verblüfft und hielt die Handschuhe hoch, die ich ihm zu Chanukka gestrickt hatte.
»Weil ich meine Aufenthaltserlaubnis verlieren werde, sobald ich England verlasse«, erwiderte mein Onkel schlicht. Ich schnappte nach Luft. »Was hast du erwartet?«, fragte er. »Der Krieg ist vorbei. Die Insel ist froh, wenn sie ihre Flüchtlinge wieder loswird.«
»Aber … du musst …« Mein Entsetzen war so groß, dass ich kaum sprechen konnte. »Mamu … wie soll … ich dachte doch …«
»Lass mich die beiden erst mal finden, Ziska. Wir können neue Papiere beantragen. Ich werde deine Mutter schon überzeugen, dass sie herkommen muss.«
»Glaubst du denn«, ich setzte mich aufs Bett, »glaubst du denn, sie würde nicht wollen?«
Onkel Erik lächelte. Er hatte sichtlich an Kraft gewonnen, aber der traurige Ausdruck war nur selten aus seinen Augen gewichen, und in den letzten Tagen hatte ich gar nichts anderes mehr darin gesehen. Vor ihm lag die Aufgabe, Tante Ruth vom Tod ihrer Kinder zu erzählen. »Ich werde mit deiner Mutter reden«, wiederholte er. »Ich werde ihr sagen, dass du die Einzige von uns bist, die noch ein Zuhause hat. Wenn wir zusammen neu anfangen wollen, dann muss das also in England sein.«
»Was wird sie dazu sagen? Was meinst du?«
Ich hatte mich nie getraut, ihn das zu fragen, und sah ihn ängstlich an. »Sie wird ein wenig Zeit brauchen«, wich er aus. Mein Mut sank augenblicklich. »Ziska, Margot hat dafür gelebt, dich wiederzusehen. Du bist alles, was ihr geblieben ist.
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