Liverpool Street
überall wurde aufgeräumt, gebaut, geplant – und das Flüchtlingskomitee erinnerte sich wieder an mich.
»Nun, wo der Krieg vorbei und Deutschland befreit ist, müssen wir uns natürlich Gedanken machen, was aus dir werden soll«, teilte mir Mrs Lewis mit.
Unruhig rutschte ich tiefer ins Wohnzimmersofa hinein. Sie saß mir gegenüber, die Handtasche auf dem Schoß. »Hast du Nachricht von deiner Mutter?«, wollte sie wissen.
Ich schüttelte den Kopf. »Mein Onkel ist seit zehn Tagen in Holland, um sie zu suchen, aber wir haben bisher nichts von ihnen gehört.«
»Du kannst auch eine Suche übers Rote Kreuz starten. Ich habe das Formular mitgebracht.« Mrs Lewis griff in ihre Handtasche und zog das Papier hervor. »Natürlich nur, falls dein Onkel nichts erreicht«, fügte sie rasch hinzu.
»Natürlich«, murmelte ich, und: »Vielen Dank.«
»Du beendest im Sommer die Secondary School? Das freut uns, Frances. Du bist eine unserer Erfolgsgeschichten! Wir haben Tausende von Kindern aus Deutschland herausgebracht, aber leider haben es nicht alle so gut getroffen wie du. Es gab Probleme mit Pflegefamilien, erhebliche Anpassungsschwierigkeiten unter den Kindern … sogar Fälle von Gesetzesverstößen, muss ich leider sagen.«
»Mrs Lewis«, unterbrach ich, »warum sind Sie hier?«
Sie warf mir einen unerwartet harten, prüfenden Blick zu. »Du weißt, dass dein Aufenthalt in England als vorübergehend gedacht war?«
»Sicher. Aber dann hat der Krieg ja alles geändert …«
»Das kommt darauf an«, entgegnete sie gedehnt. »Niemand wird dich ausweisen, selbst wenn die Gefahr nun vorüber ist. Glaub mir, man geht sehr sensibel mit Fällen wie deinem um, man berücksichtigt, dass du praktisch in England aufgewachsen bist. Aber wenn deine Mutter noch lebt und in Deutschland auf dich wartet, wirft das natürlich Fragen auf.«
Der Schock fuhr mir bis in die Knie. »Ich gehe nicht nach Deutschland zurück. Niemals!«
»Beruhige dich, Frances. Ich sagte doch, wir schicken dich nicht zurück – es sei denn, deine Mutter verlangt es. Und deshalb haben auch wir ein Interesse zu erfahren, ob sie lebt. Wir müssen wissen, ob wir weiterhin für dich verantwortlich sind oder ob du noch Familie hast.«
»Ich habe Familie«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Die Shepards.«
»Ich glaube, du weißt genau, wovon ich rede, Frances«, erwiderte Mrs Lewis, legte das Suchformular auf den Couchtisch, der zwischen uns stand, und schob es zu mir hinüber.
»Du hast es gewusst, habe ich Recht?«, sagte ich, nachdem sie gegangen war.
An den Türrahmen gelehnt sah ich zu, wie Amanda am Küchentisch Gemüse putzte. »Dass deine Mutter deine Rückkehr verlangen kann?«, gab sie zurück, ohne sich zu mir umzudrehen. »Was ist neu daran?«
Ich betrachtete ihren Rücken, das Muster auf der alten Strickjacke, die schon Fäden zog. »Darum hast du also nie etwas gesagt, als ich mich für euch entschieden habe. Matthew muss es dir erzählt haben, aber du hast es nie erwähnt.«
Ihre Hände stockten für einen Augenblick. Ich sah, wie sie ganz leicht den Kopf wandte.
»Du hast auch nie gesagt, dass du mich liebst. Kein einziges Mal«, fuhr ich fort, stieß mich vom Türrahmen ab und ging langsam zum Tisch, um mich zu setzen. »Nicht, dass ich es nicht trotzdem gewusst hätte … aber du hast es mit Absicht vermieden, stimmt’s?«
Amanda lächelte. »Frances«, sagte sie, »zu den Dingen, die ich an dir besonders liebe, zählt dein Hang zur Dramatisierung.«
»Glaubst du nicht auch, dass ich alt genug bin, selbst zu entscheiden? Wenn Mamu mich zurückhaben will, muss sie zu mir kommen. Schließlich ist sie es gewesen, die mich fortgeschickt hat.«
»Himmel. Du nimmst es ihr immer noch übel?« Endlich sah Amanda betroffen aus, wenn auch nicht um meinetwillen, sondern wegen Mamu. Sofort fühlte ich mich verraten.
»Ich nehme es ihr nicht übel«, fuhr ich auf. »Aber sie hat dadurch das Recht verloren, über mich zu bestimmen. Ich entscheide, ich ganz allein, und genau das werde ich ihr sagen, wenn sie es vergessen haben sollte!«
Meine Pflegemutter, die Mutter, für die ich mich entschieden hatte, sah mich an und für einen Augenblick verschlug es mir den Atem. Blitzartig war die Erinnerung da … die Sekunde unserer ersten Begegnung, der Blick in dieses kluge, freundliche Gesicht, meine spontane Sehnsucht, die mich nie mehr losgelassen hatte. Jetzt stand noch so viel mehr darin … die vergangenen sechs Jahre, der
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