Liverpool Street
Zehenspitzen, warteten ab, ließen mir Zeit. Sie würden für mich da sein, sobald ich das wollte, wie sie es immer gewesen waren. Kein Ahnung, warum das nicht half, warum es mein Gefühl, allein zu sein, noch verstärkte.
Amandas Vorstoß mit dem Tisch war der erste Versuch, mich zu irgendetwas zu bewegen, und ein Argument dagegen zu finden kam mir schwerer vor, als ihr den Gefallen zu tun. Ohne ein weiteres Wort packte ich meine Bücher und Hefte zusammen und folgte ihr.
Nie hätte ich geahnt, wie viel Hoffnung, Angst und Ruhelosigkeit es in mir auslösen würde, meine Mutter nach all den Jahren wieder in Reichweite zu wissen. Mir war, als wäre mein Leben im selben Moment unterbrochen worden, als ich Onkel Eriks Brief erhielt; als müsste ich sie erst sehen, ansprechen, ein Wort von ihr erhalten, bevor ich wieder Atem holen durfte. Dabei hätte ich nicht einmal gewusst, was ich zu ihr sagen sollte. Ich musste ihr Foto zu Hilfe nehmen, um mich überhaupt an ihr Gesicht zu erinnern, und auch das schützte nicht vor jenen anderen Bildern, die sich nun darüberschieben wollten. Hätte ich nur diesen Film nicht gesehen!, dachte ich.
Amanda zog sich in den hinteren Teil des Gartens zurück, während ich mit meinen Büchern auf der Bank vor dem Haus Platz nahm; sie hatte mir Saft und ein Stück Kuchen hingestellt, ließ mich aber in Ruhe. Verstohlen sah ich zu ihr hinüber, sah ihre flinken Hände graben, schnippeln, kleine Pflanzen umsetzen. Die Nachbarinnen konnten sich gar nicht beruhigen, wie rasch unser Garten unter Amandas Händen wiedererstand. »Was nimmt sie, Frances?«, bedrängte mich Mrs Beaver. »Kaffeesatz? Etwas Unappetitliches aus der Toilette?«
»Es ist nur die Liebe«, antwortete ich. »Das und ein wenig Brennnesseltunke …«
Vorerst war Amandas Garten allerdings nur eine bescheidene Ecke rund um den Anderson-Shelter, denn wann die Rationierung aufgehoben werden und wir die Gemüsebeete nicht mehr benötigen würden, war überhaupt nicht abzusehen.
Mir selbst wäre am liebsten gewesen, den Shelter und jegliche Erinnerung an die Bombennächte abzureißen, die wir darin erlitten hatten, aber was Garys Hand berührt hatte, war für seine Mutter unantastbar. Sie hatte das Runddach mit Ranken bepflanzt und ich stellte mich darauf ein, künftig auf eine ziemlich makabre Gartenlaube zu blicken, wenn ich aus der Küchentür trat.
Über mein Buch hinweg schielte ich zu Amanda, sehnte mich danach, dass sie zu mir kam und mich einfach in den Arm nahm – und sei es nur, damit ich sie wegstoßen konnte.
Ich werde verrückt, wenn Mamu nicht bald schreibt, dachte ich.
»Was haltet ihr davon, morgen nach Southend zu fahren?«, schlug Matthew am Freitag vor.
Wir sahen ihn verdutzt an. »Was soll das?«, fragte ich unwillig. »Es ist Schabbat. Auto fahren wir nur im Notfall.«
»Den Notfall haben wir bestimmt, wenn wir dich nicht bald von deinen Büchern weglocken! Ich habe schon mit Teddy Beaver geredet. Er und Ethel fahren uns hin, bleiben selbst einige Tage dort, wir können Sonntag mit dem Zug zurückfahren und sind nachmittags rechtzeitig zur Arbeit wieder hier.«
Meine Pflegeeltern sahen sich zufrieden an und es war beschlossen: Wir würden an unserem freien Tag nach Southend-on-Sea reisen, genauso wie im letzten Sommer vor dem Krieg.
Ausgerechnet Southend … gegenüber der belgisch-holländischen Küste! Fast war ich schockiert, den Ort unverändert vorzufinden. Die Barrikaden waren abgebaut, ruhig und heiter rollten die immer gleichen kleinen Wellen an den Strand, man spazierte die Promenade entlang, als habe man nie etwas anderes getan.
Kaum hatte er einen Fuß aus dem Auto gesetzt, wurde Matthew doch noch von Skrupeln befallen. Der Schabbat war, von der Mogelei mit dem »Notfall« ganz abgesehen, ausdrücklich nicht für Vergnügungen, sondern für geistige Erlebnisse gedacht. Nun drohte meinem Pflegevater die frische Meeresbrise offenbar so großes Vergnügen zu bereiten, dass er nicht wagte, seinen Mantel auszuziehen!
Amanda und ich standen in Sommerkleidern vor seinem Liegestuhl und blickten zweifelnd zu ihm hinab.
»Wir wollen Postkarten und Eis kaufen – kommst du nicht mit?«
»Nein, ich möchte am Schabbat kein Geld anfassen. Lasst mich einfach hier sitzen und ein wenig lesen.« Er blinzelte unter seinem Hut in die Sonne und streckte die Beine von sich, um den Anschein von Bequemlichkeit zu erwecken. Ich vermutete jedoch, dass es in seinen schwarzen Schuhen bereits
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