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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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angesehen, wenn ich gewusst hätte, dass dies der Ort war, an dem meine Mutter das Kriegsende erlebt hatte? Dass sie dort gewesen war, als die Aufnahmen entstanden? Dass ich ihr auf der Leinwand hätte begegnen können … oder ihr begegnet war, ohne sie zu erkennen?
    In der Reihe hinter uns tuschelte es: zwei ältere Damen. »Wie haben sie das gemacht? Wo haben sie all die Toten und Verhungernden her? Das ist doch nur wieder irgendein Trick von den Juden, um Aufmerksamkeit zu erregen.«
    Wäre es doch nur so!, dachte ich. Hätten diese beiden doch nur Recht!
    Hinterher traten wir aus dem fremden Kino in den Sonnenschein, gingen vom Leicester Square bis hinunter zur Themse und dort stundenlang einfach schweigend weiter, als könnten wir darauf hoffen, dass der freundliche Frühsommernachmittag das Wissen aus unserem Gedächtnis tilgte. Frachtschiffe tuckerten über den Fluss, Wäsche flatterte an langen Leinen, Kinder fuhren zwei Katzenbabys in einem Puppenwagen spazieren. Ich dachte: Wenn meine Mutter überlebt hat, was wir gerade gesehen haben, dann wird sie nie mehr die Mamu sein, die ich kenne.
    Das Telegramm kam einige Tage später. »Margot lebt – grüßt und umarmt dich – Näheres folgt – Onkel Erik.«

23
    Mrs Collins würde ihre Weltkarte wegwerfen müssen. Wer nach den nächsten Sommerferien in die Schule zurückkehrte, würde es mit anderen Grenzen zu tun bekommen, würde einige, vor dem Krieg unabhängige kleine Staaten von der Karte verschwinden sehen. Hitlers Griff nach den Nachbarländern war vereitelt worden, doch auch die Siegermächte hatten Pläne für Europa. Den Scharen Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft zogen, folgten lange, mühselige Trecks aus »Umsiedlern« und Entwurzelten; verzweifelte Wanderungen, die das Bild auf den Straßen noch lange beherrschten, bis niemand mehr Notiz von ihnen nahm.
    Überall machten sich verzweifelte Menschen auf die bittere, oft jahrelange, noch öfter vergebliche Suche nach ihren Angehörigen.
    Groningen, 24. Juni 1945. Liebe Ziska, nun sollst du auch auf die Einzelheiten nicht länger warten müssen. Am 9. Juni habe ich deine Mutter in einem Lager namens Belsen in der Lüneburger Heide gefunden. Das Rote Kreuz hatte ihren Namen auf einer Liste von Überlebenden, die nach der Befreiung im Krankenhaus behandelt worden waren. Sie nach Holland mitnehmen zu dürfen, war schwierig, aber persönliche Kontakte zur britischen Besatzungsmacht – Corporal Lightfoot! – haben die Angelegenheit dann doch recht schnell geregelt. Vorerst wohnen wir bei den alten Damen, die Margot und Ruth bis zum Oktober aufgenommen hatten, aber es ist nur ein einziges Zimmer und vielleicht gelingt es uns, eine kleine Wohnung zu finden.
    Die Stationen der letzten acht Monate sind die: Von Westerbork aus hat man die beiden direkt nach Auschwitz gebracht, wo sie aber nur etwa sechs Wochen blieben und im Januar, kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee, in einen Zug nach Deutschland gesteckt wurden. Bergen-Belsen war kein Vernichtungslager, die Menschen starben durch Hunger und Typhus, wie auch deine Tante Ruth am 4. April 1945. Ja, Ziska, deine Tante, meine Frau lebt nicht mehr. Aber sie ist in dem Glauben gestorben, dass unsere beiden Töchter in Sicherheit sind.
    Ich weiß nicht, ob du und ich je mehr erfahren werden. Deine Mutter spricht nicht darüber. Sicher ist nur, dass ich noch keine Möglichkeit sehe, die Frage nach der Zukunft aufzuwerfen. In Holland zu sein tut deiner Mutter gut und jeder Tag erlebt neue Fortschritte im Essen, Zunehmen und Allgemeinbefinden. Langsam scheint sie ein Gefühl dafür zu gewinnen, am Leben zu sein.
    Hab Geduld. Ich sehe, dass sie einen Brief an dich angefangen hat. Ich glaube aber nicht, dass sie möchte, dass du schon kommst und sie so siehst.
    »Warum kommst du nicht in den Garten, Frances? Ich habe dir den kleinen Tisch hinausgestellt, du kannst deine Schulbücher mitnehmen und dort lernen.«
    Ich blickte auf. Wie so oft seit meinem Unfall pochten und bohrten hinter meiner Stirn starke Kopfschmerzen und es brauchte einige Sekunden, bis meine Augen sich von den winzigen Lettern im Mathematikbuch auf Amandas Gesicht umgestellt hatten.
    »Du wirst bald eine Brille brauchen, wenn du so weitermachst«, bemerkte sie.
    Ich murmelte halblaut: »Schön für dich, wenn das deine einzige Sorge ist«, und erwartete keinen Widerspruch, denn wir wussten beide, dass es nicht stimmte. Seit Tagen gingen meine Pflegeeltern in meiner Nähe auf

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