Liverpool Street
Krieg, Garys Tod, unsere gemeinsame Geschichte.
»Hab keine Angst.« Hinterher war ich nicht einmal sicher, ob sie es laut gesagt hatte. »Leg dir nicht zurecht, was du sagen willst. Wenn du sie siehst, wirst du es wissen. Erst dann.«
Das Suchformular des Roten Kreuzes bestand aus nur wenigen Zeilen, von denen die erste am schwersten auszufüllen war. Name der gesuchten Person … Mein Stift kreiste minutenlang darüber – tagelang, wenn man hinzurechnete, wie viel Zeit ich gebraucht hatte, um das Formular, das Mrs Lewis mir gegeben hatte, zu nehmen, zu lesen und zu benutzen.
Rebekka Liebich. Ich atmete tief aus, als es endlich dastand. Der Rest ging schnell. Geboren am 8. Dezember 1927, zuletzt wohnhaft in Berlin-Neukölln, Silbersteinstraße, mit ihren Eltern, Susanna und Hermann Liebich. Es gab einige Zeilen für »Sonstiges«, dort trug ich die drei Worte ein, die wie eine Bitte aussahen: Möglicherweise im Ruhrgebiet, Fragezeichen. Ich steckte das Blatt in den Umschlag, klebte es zu und eine Briefmarke auf, bevor mich der Mut verließ.
Der andere Brief lag unter der Schreibunterlage, der, auf den wir so lange gewartet hatten und der vorgestern eingetroffen war, rund drei Wochen nach Onkel Eriks Abreise.
Groningen, 26. Mai 1945. Liebe Ziska, leider habe ich keine gute Nachricht. Die alten Damen konnten Margot und Ruth nur bis zum letzten Oktober beherbergen wegen eines absoluten Versorgungsnotstandes, sprich: Aushungerung, alles Brauchbare ging ans Deutsche Reich, viele Juden wurden daraufhin von ihren Rettern aus Verzweiflung auf die Straße gesetzt. Nächste Station KZ Westerbork, alles Übrige offen. Verlier die Hoffnung nicht. Das Rote Kreuz ist noch mit der Listung derjenigen beschäftigt, die in den Lagern befreit wurden. Namen angegeben und warte auf Antwort. Melde mich sofort. Onkel Erik.
Ich hatte mich allein mit dem Brief in mein Zimmer zurückgezogen und die wenigen Sätze gelesen, wieder und wieder, bis ich meinte, Onkel Eriks Stimme zu hören, und als mir endlich die Tränen kamen, war es um seinetwillen gewesen. Das verkraftet er nicht, nicht schon wieder! Lass ihn nicht mehr warten. Lass es ein Ende nehmen …
Die Worte waren auf einmal da gewesen, obwohl ich doch längst zu dem Schluss gekommen war, dass Gott mit dem Krieg nichts zu tun hatte. Seit Garys Tod hatte ich es vermieden, ihn oder Jesus in dieser Sache um irgendetwas zu bitten. Was der Mensch in der Freiheit seines Willens begonnen hatte, nahm seinen Lauf und Gott würde nicht eingreifen, schenkte vielleicht dem einen oder anderen einen Traum oder eine Eingebung, aber ein Wunder würde es nicht geben. Ich hätte gern darum gebetet, dass Onkel Erik Mamu und Tante Ruth noch lebend fand; ich hätte gern das Gefühl gehabt, auf diese Weise etwas für sie zu tun. Aber es gelang mir nicht. Was geschehen war, war geschehen. An einen allmächtigen Gott glaubte ich nicht mehr.
Und doch hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass er da war und dass es ihn nicht unberührt ließ, was mit uns Menschen geschah. Er hatte alles mit ansehen müssen, jeden bösen Plan, jeden einzelnen Mord … plötzlich wusste ich, worum ich bitten konnte.
Wenn du ein mitfühlender Gott bist, dann hab jetzt Erbarmen mit Onkel Erik. Verlass ihn nicht. Bleib einfach bei ihm und verleih ihm Mut.
Hätte es auch für meine Mutter und Tante Ruth ein Gebet gegeben? Ich fand es nicht, noch nicht; Mamus Ergehen lag völlig außerhalb meines Vorstellungsvermögens.
Auf die Straße geworfen, weil ihre Retterinnen nichts Essbares mehr auftreiben konnten. Von den Nazis aufgegriffen und verschleppt, alles Übrige offen. Wie hätte ich das je in Worte fassen können?
»Ich rate euch wirklich davon ab«, sagte Matthew mit Entschiedenheit. »Ich habe den Film gesehen und weiß, wovon ich rede. Warum müssen wir die Leiden unseres Volkes auch noch öffentlich zur Schau stellen? Etliche der armen Menschen, die ihr euch da ansehen wollt, sind in den Tagen nach den Aufnahmen an Entkräftung gestorben.«
»… die wir uns ansehen wollen?«, wiederholte Amanda ärgerlich. »Ja, glaubst du denn, wir wollten das sehen? Frances will verstehen, was passiert ist, das ist alles.«
»Sie wird es danach noch weniger verstehen«, erwiderte Matthew, und obwohl ich nach nur wenigen Minuten in dem fremden Kino an seine Worte denken musste und merkte, dass er Recht hatte, war ich doch froh, den Mut aufgebracht zu haben.
Die Befreiung von Bergen-Belsen. Hätte ich den Film
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