Liverpool Street
einfach ignorieren.«
»Das stimmt. Lieber ignorierst du, dass du jetzt meine Mutter bist.«
Das saß! Mit grimmiger Befriedigung sah ich, wie mein Pfeil ins Herz traf. Bevor Amanda sich erholen konnte, legte ich nach. »Sie hat mich zur Welt gebracht«, erklärte ich resolut, »aber es warst verdammt noch mal du, die mir das Leben geschenkt hat.«
Die beiden Tränen in Amandas Augen klinkten sich aus und rollten los, hervorgepresst allerdings weniger durch Rührung als durch das spontane Kichern, das meine Worte bei ihr auslösten. Zugegeben, ich mochte ein wenig übertrieben haben, aber beleidigt war ich doch.
»Bravo«, sagte ich zitternd. »Dir gelingt es soeben, die letzten sechs Jahre einfach auszuradieren. Und ich dachte schon, wir hätten etwas Besonderes.«
»Ach, Liebling. Das hatten wir. Das haben wir noch! Genau das wollte ich dir gerade sagen … wenn du auf diese sechs Jahre zurückschaust, wenn du die Bombennächte abziehst, die Angst um deine Eltern, um Gary und Matthew, deinen Unfall, Garys … Garys Tod …«
Sie hatte es noch nie gesagt, das Wort Tod, und ich konnte sehen, wie es ihr die Kehle zuschnürte. »Findest du nicht auch, dass es eine glückliche Zeit war?«, fragte sie tapfer. »Mehr hätten wir uns gar nicht lieben können, nicht wahr? Du warst meine Tochter und ich war sehr, sehr gerne deine Mum. Wir haben uns aufeinander verlassen, waren füreinander da …«
Merkwürdig. Das waren die Worte, nach denen ich mich immer gesehnt hatte, doch anstatt mich zu freuen, ballte sich in meinem Bauch etwas Heißes, Fremdes zusammen. Unwillkürlich legte ich eine Hand auf die Stelle und fühlte einen harten Klumpen Angst.
»Wir sind uns nichts schuldig geblieben«, fuhr Amanda fort, und plötzlich wusste ich, worauf sie hinauswollte.
»Nicht, Mum!«, hörte ich mich mit ganz fremder Stimme sagen.
»Wir lieben uns genug, um nicht immer beisammen sein zu müssen. Egal, wo du bist, wir können uns nicht mehr verlieren. Das gilt auch für Matthew …«
»Hör auf!«
»Wir schicken dich nicht fort, Frances. Wir wollen dir nur sagen, dass du frei bist, zu gehen und deine Mutter zurückzugewinnen.«
Ich sprang auf. »Sei still!«, schrie ich sie an, so laut ich konnte. An anderen Tischen wandten sich Köpfe, Leute blickten verblüfft und befremdet zu uns hinüber.
Aber Amanda sprach es tatsächlich aus. »Mein Liebling, wenn es irgendjemanden gibt, mit dem du fertig bist, dann sind es Matthew und ich.«
Am letzten Tag der Secondary School gab es eine kleine Feierstunde in der Aula, wurden wir einzeln nach vorn gerufen, um die Abgangszeugnisse in Empfang zu nehmen, und sprach unsere Klassenlehrerin einige warme Worte über die nächsten Pläne eines jeden von uns, die sie uns zuvor bedrängt hatte zu enthüllen. »Du siehst ein, dass ich irgendetwas über dich sagen muss, Frances, sonst sieht es seltsam aus, nicht wahr …?«
So biss ich die Zähne zusammen und lächelte, als der Saal erfuhr, dass ich ab September mit besten Noten und Empfehlungen auf die Oberschule gehen würde, um später das College zu besuchen und Dolmetscherin zu werden. Fremde Eltern klatschten höflich, wir drängten uns auf der Schultreppe für ein Foto zusammen, es gab Umarmungen und feierliche Schwüre, einander nicht aus den Augen zu verlieren. Lesley Howard winkte mir im Fortgehen quer über den Hof zu – »Wir sehen uns im September auf der neuen Schule!« – und vor mir lag die endlose Wüstenei der großen Ferien.
Meine Pflegeeltern warteten mit den anderen Eltern am Rande des Schulhofs. Amanda hatte eine Mappe mitgebracht, in der sie mein Abgangszeugnis sorgfältig verstaute. »Das war recht schön«, meinte sie. »Wenngleich einige von euch bemitleidenswert aussahen nach der Party gestern Nacht. Ich habe mindestens zwei Jungen schlafen sehen. Sie schienen geradewegs in einen Albtraum zu erwachen, als ihre Namen aufgerufen wurden.«
»Einer von ihnen war Wesley«, bemerkte ich. »Ihr wisst schon. Mein erster Kuss.«
Die beiden lachten. Seit unserer Rückkehr aus Southend machten wir nahezu eine Politik daraus, entspannt miteinander umzugehen. Zur Feier des Tages luden sie Hazel und mich ins Bardolo ein, ein sündhaft teures koscheres Restaurant in Westminster. Meine Freundin traf uns dort, hauchte jedem von uns einen Kuss auf die Wange und schon im Hinsetzen entsprudelten ihr die neuesten komischen Erlebnisse aus ihrem Alltag als Telefonistin.
Auf Hazel war wie immer Verlass: Am Tag meines
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