Liverpool Street
kochte.
»Bestimmt dreht er den Stuhl um, sobald wir weg sind«, flüsterte Amanda.
In einiger Entfernung blieben wir neugierig stehen, und tatsächlich: Matthew erhob sich, stapfte mit wehendem Mantel durch den Sand und schubste den Liegestuhl in die am wenigsten schöne Aussichtsposition. Dann sank er ermattet hinein und packte sein Gebetbuch aus. So widerstrebend ich selbst mitgefahren war: Plötzlich rührte mich, dass er all dies meinetwegen auf sich nahm.
Am Postkartenstand suchten wir gemeinsam nach einer Karte für Walter, aber im Grunde war mir klar, wer Amanda in Wirklichkeit durch den Kopf ging. »Meinst du, diese könnte deiner Mum gefallen?«, fragte sie und legte größte Selbstverständlichkeit in ihre Stimme.
»Mamu«, verbesserte ich. »Versuche bitte, euch beide nicht durcheinanderzubringen!«
Sie lächelte entschuldigend und hielt mir die Postkarte hin, eine Darstellung des berühmten Piers, das kilometerweit ins Wasser ragte. Auf die andere Seite der Küste zu – deutlicher ging es wirklich nicht. »Eine von euch beiden sollte endlich den Anfang machen«, beschloss Amanda und bezahlte die Karte.
Ich sagte nichts. Ich wusste, dass sie Recht hatte; ich vermutete, dass Mamu mir nur deshalb noch nicht geschrieben hatte, weil sie dieselben Schwierigkeiten mit »ersten Worten« hatte wie ich. Nichts würde einfacher sein, als mit einer schlichten Urlaubspostkarte zu beginnen.
Dennoch begehrte ich sofort auf, als Amanda mir im Eiscafé die Karte über den Tisch schob. »Warum muss ich diejenige sein, die den Anfang macht?«, entfuhr es mir. »Wenn ich ihr wichtig wäre, hätte Mamu sich längst gemeldet. Und sie hätte mich damals auch nicht …«
Ich brach ab und blickte trotzig über die Promenade hinweg aufs Meer. Auf dem Pier wurde spaziert, eine stete, disziplinierte Schar bewegte sich im Gänsemarsch in beiden Richtungen. »Wenn es so etwas gibt wie eine Hölle auf Erden, dann war deine Mutter dort«, sagte Amanda leise. »Vielleicht ist sie es noch immer.«
»Ich kann ihr nicht helfen«, murmelte ich in Richtung des Wassers.
»Das glaube ich doch.«
»Habe ich dir eigentlich je erzählt, warum sie mich allein nach England geschickt hat?« Ich sah meine Pflegemutter kühl an. »Mamu und ich hätten nach Shanghai ausreisen können, wir hatten alle erforderlichen Papiere bis hin zu den Schiffskarten. Aber Papa war noch in Sachsenhausen und sie hat sich lieber von mir getrennt als von ihm.«
Amanda verschlug es die Sprache. »Ich war zehn Jahre alt«, sagte ich heiser. »Ich wäre lieber gestorben, als allein zu gehen, und sie wusste das.«
»Frances! Vor eine solche Wahl gestellt zu werden … du kannst doch nicht ernsthaft ihr die Schuld daran geben!«
»Von Schuld rede ich ja gar nicht! Aber so nahe, wie du denkst, standen wir uns nicht. Papa kam immer an erster Stelle in ihrem Leben, er war wunderbar …« Meine Stimme versagte, einige Sekunden brachte ich kein Wort heraus. »Es war die beste Entscheidung, die sie treffen konnte«, gestand ich endlich. »Doch jetzt bin ich hier und sie ist dort … so ist es nun einmal.«
Amanda faltete ihre Hände über der Eiskarte und schwieg. Ich war froh, als die Kellnerin an unseren Tisch kam. »Weißt du was? Ich schreibe die Postkarte, sobald wir zurück in der Pension sind«, lenkte ich ein, nachdem wir bestellt hatten. »Nur darum habt ihr mich nach Southend geschleppt, habe ich Recht?«
Aber ich hätte es besser wissen müssen – nachdem wir das Thema einmal eröffnet hatten, würde mich Mum nicht mehr vom Haken lassen. »Schatz, ich habe das Gefühl, dass du mir nichts anderes zu erklären versuchst, als dass du mit deiner Mutter fertig bist«, sagte sie mir ins Gesicht.
Ich war schockiert. »Nein, wie … wie kannst du so etwas sagen? Ich denke ständig an sie, ich mache mir Sorgen, …«
Amanda lächelte fein, als ich ihr in die Falle ging. »Das ist das Problem, nicht wahr? Du kannst nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. Der Moment ist gekommen, es zu regeln.«
»Was denn zu regeln?«
»Das, was zwischen euch steht. Was du seit sechs Jahren mit dir herumschleppst. Es gibt Dinge, die an Gewicht gewinnen, je mehr man sich einredet, sie seien gar nicht da.« Sie beugte sich vor und sah mich eindringlich an. »Wenn ich mir sicher wäre, dass du ohne deine Mutter glücklich sein könntest, würde ich alles dafür tun, dass die Dinge bleiben, wie sie sind. Aber das bin ich nicht. Du bist es nicht. Das lässt sich nicht
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