Liverpool Street
meine Einschulung erinnerte. Aber fast alle hatten ernste Gesichter. Ich sah mich um und entdeckte einige Mädchen, die ich kannte, doch niemand winkte mir zu. Nur Carola Cohn ließ durch ein kurzes Nicken erkennen, dass sie mich gesehen hatte.
»Siehst du? Es sind viele dabei, die noch jünger sind als du«, murmelte Mamu.
Ich antwortete nicht. Seit sie die Schiffskarten zurückgegeben hatte und ich wusste, dass ich nicht mehr aus der Sache herauskam, fühlte ich mich alt. Ich drückte den Rücken durch, um mich größer zu machen, und achtete auf meine Worte. Nicht ein einziges Mal hatte ich seitdem mit Evchen oder Betti gestritten. Mamu verließ sich auf mich. Ich würde meine Eltern aus Deutschland herausholen. Das allein ließ mich den Schmerz aushalten.
Bekkas Reaktion hatte mich verstört. »Wir zwei, zusammen fahren? Das wäre ein halbes Wunder«, meinte sie. »Ist dir klar, wie viele Kinder auf der Liste stehen? Man muss froh sein, wenn man überhaupt mitgenommen wird.«
Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass so viele Eltern ihre Kinder fortschickten. Der Anblick der Warteschlange schnürte mir die Kehle zu.
»Weißt du, was das Beste wäre?«, hatte Bekka mit schiefem Lachen hinzugefügt. »Wenn du meinen Platz bekämst!«
»Ich möchte gern mit meiner Freundin zusammen fahren«, sagte ich zu dem Mann, der sich als Herr Weitz vorgestellt hatte und meinen Antrag entgegennahm. »Rebekka Liebich. Sie hat sich schon vorige Woche angemeldet.«
»Was ist mit deinem Vater, Franziska?«, fragte er. »Ist er noch in Sachsenhausen?«
»Ja, obwohl wir zwischendurch schon Schiffskarten hatten. Sie lassen ihn einfach nicht heraus.«
Mamu, die neben mir saß, nickte mir zu, als hätte ich bei einer Prüfung die richtige Antwort gegeben.
»Dass dein Vater im Konzentrationslager ist, erhöht deine Chance auf einen Platz«, bemerkte Herr Weitz, der ein blasses, müdes Gesicht und tiefschwarze Augenringe hatte.
»Wenn mein Vater nicht im Konzentrationslager wäre, bräuchte ich überhaupt keinen Platz«, antwortete ich entrüstet. In seine erschöpften Augen trat völlig überraschend ein Lächeln.
Mamu, die es nicht gesehen hatte, konnte nicht mehr an sich halten. »Wir sind der Kinder-Flüchtlingshilfe sehr, sehr dankbar für ihr Engagement!«, hub sie an.
»Schon gut, Frau Mangold«, sagte Herr Weitz. »Ich weiß, wie schwer es ist. Meine Helga steht auch auf der Liste.«
Wie wir die nächsten Wochen überstanden, kann ich nicht sagen. Ich war bei meiner Mutter und war es bereits nicht mehr, ich war in Gedanken in England und konnte es doch nicht sein, da ich weder wusste, wie es dort aussah, noch ob ich je dort ankommen würde. Mamu verfiel in Geschäftigkeit, kaufte mir für viel zu viel Geld neue Kleidung und nähte kleine Stoffstreifen mit meinem Namen ein. Ich fühlte mich unbehaglich in ihrer Gegenwart und hatte den Eindruck, dass es ihr ebenso ging. Die offene Frage, ob wir uns trennen würden, machte uns sprachlos. Ich sah zu, wie sie zur Probe meinen Koffer packte, und hatte bald ebenso große Angst vor der Absage eines Platzes im Kindertransport wie vor der Zusage.
Zum ersten Mal erhielt ich einen nur an mich adressierten Brief von meinem Vater.
Liebes Ziskele, nun wirst du dich wohl bald aufmachen nach England und von dort aus für uns zu tun versuchen, was du kannst. Du wirst eine neue Sprache lernen und, da bin ich mir sicher, herzensgute, großartige Menschen treffen. Zu denken, dass es irgendwo in der Welt noch Frauen und Männer gibt, die nicht gleichgültig zusehen, was mit uns geschieht, sondern uns in ihre eigene Familie aufnehmen! Ich wünsche mir, dass ich deinen Gasteltern eines Tages persönlich danken kann.
Vergiss nicht, dass wir, deine Mutter und ich, dich nur gehen lassen, um dich in Sicherheit zu wissen. Und glaube nicht, dass du allein gehst: Wir werden in Gedanken bei dir sein, Stunde um Stunde, und wir wissen, dass auch du uns nicht vergessen wirst, sondern dein Möglichstes tust, damit wir drei uns schon bald wieder in die Arme schließen können. Wir werden umso stärker sein, je stärker du bist. Ich bin stolz auf dich, mein Ziskele. Sei behütet und gesegnet alle Zeit, das wünscht dir mit tausend Küssen dein Vater,
Franz Mangold.
Ich las den Brief wieder und wieder. Er war so feierlich, dass ich mich ganz erhaben fühlte. Von Mamu wusste ich, dass die Häftlinge in Baracken schliefen und tagsüber Bauarbeiten verrichteten und dass Sachsenhausen als
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