Liverpool Street
Konzentrationslager einen besseren Ruf hatte als Buchenwald, wo die Männer in Steinbrüchen schufteten und gewiss keine Briefe schreiben durften. Ich konnte mir meinen Vater nicht recht als Bauarbeiter vorstellen, aber er schrieb zuversichtlich, dass er auf diese Weise Erfahrungen in einem praktischen Beruf sammelte.
Meine Mutter nahm sich sein Beispiel zu Herzen und ging in einen der Schneiderkurse, die neuerdings überall angeboten wurden. Handwerkliche Fähigkeiten, so erklärte sie mir, erhöhten die Chance auf ein Visum in einem der Länder, die von ihren Einwanderern Kenntnisse in einem »Mangelberuf« verlangten.
Der Gedanke, dass mein Vater sich meinetwegen stärker fühlte, machte mich froh. Meine Mutter schickte ihm Päckchen, Kleidung und Geld und rannte unermüdlich umher, um seine Freilassung zu erwirken. Nun würde auch ich bald etwas für ihn tun können.
»Am Donnerstag schon!«
»Wie, keine Wertsachen mitnehmen? Was ist denn mit ihrer Armbanduhr, zählt die auch dazu? Sie kann doch nicht ohne Uhr fahren! Und hier: Bis auf 10 Reichsmark ist Geld den Kindern gleichfalls nicht mitzugeben! Ja, soll ich denn meine Tochter als Bettlerin nach England schicken?«
»Wenigstens zahlt es sich aus, dass ihr sie kein Musikinstrument habt lernen lassen. Hier steht es: Mitnahme von Musikinstrumenten nicht gestattet. «
Die aufgeregten Stimmen der Erwachsenen purzelten durcheinander. Ich selbst hatte noch nicht mehr als einen ganz kurzen Blick auf den Brief werfen dürfen, da er mir sofort aus der Hand gerissen worden war. Onkel Erik, der zum Wäschewaschen gekommen war, las mit lauter Stimme die Anweisungen vor, die auf einem separaten Blatt beilagen. Dies, obwohl Mamu und Tante Ruth, die ihm über die Schulter schauten, viel schneller mitlasen, als er vorlesen konnte, und bereits ihre Kommentare abgaben, während er noch zwei Sätze zurücklag. In meinem Kopf war ein Summen wie in einem Bienenstock.
Am Donnerstag! Vier Tage noch! Vier Tage, die sich endlos in die Länge ziehen würden. Mir wäre lieber gewesen, es gleich am nächsten Tag hinter mich zu bringen. Mein Herz war wie zur Faust geballt; mir war bewusst, dass dies eine ganz entscheidende, vielleicht sogar erhabene Situation in meinem Leben war und ich erwartete von mir, dass ich etwas Angemessenes fühlte. Aber da war nichts. Mein Nacken war so steif, dass es zwischen den Ohren wehtat, aber ansonsten konnte ich keinerlei Empfindung ausmachen. Tante Ruth musste Recht haben, irgendetwas stimmte nicht mit mir.
Dafür riss meine sonst so gefasste Mutter dem immer noch vorlesenden Onkel Erik unvermittelt das Blatt aus der Hand und fing an, laut zu weinen. Die Tränen strömten nur so über ihr verzerrtes Gesicht und ich, die in den letzten Wochen wieder so schmerzlich an ihrer Liebe gezweifelt hatte, hätte über diesen Ausbruch von Verzweiflung eigentlich froh sein müssen. Stattdessen nahm ich ihn übel, er stand ihr nicht zu und ich hörte mich brüllen: »Sei still! Du hast gesagt, ich soll gehen und jetzt gehe ich auch, da kannst du heulen, so viel du willst!«
Ich ließ drei vom Donner gerührte Erwachsene zurück, als ich türenknallend hinausrannte. »So etwas Undankbares!«, rief Tante Ruth in meinen Rücken. »Und die Kleinen haben noch keine Nachricht!«
Ich sah ihr gleich an, dass etwas nicht stimmte. Ihr Gesicht war bleich und glänzte, das Lächeln darauf wie festgefroren. »Du triffst meine Familie im Glücksrausch«, begrüßte mich Bekka. »Thomas hat einen Platz auf dem Kindertransport bekommen.«
Ich folgte ihr in die Wohnung. Es war, als käme ich geradewegs wieder nach Hause. Aus dem Wohnzimmer klangen dieselben aufgeregten Stimmen und lasen denselben Brief vor. Im Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick auf Thomas, der stumm im Schaukelstuhl saß und wie ferngesteuert vor- und zurückwippte.
Bekka schloss ihre Zimmertür hinter uns, wir setzten uns aufs Bett. »Wann geht denn der nächste Transport?«, fragte ich, eher um Zeit zu gewinnen. Schon fühlte ich Fremdheit zwischen Bekka und mir aufsteigen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Am Donnerstag, und dann wieder Anfang Februar, nehme ich an. Aber die Chancen schwinden, sage ich dir. Das spricht sich herum wie ein Lauffeuer. Plötzlich will jeder Jude in Berlin seine Kinder rausbringen.«
Ich würde es ihr einfach nicht sagen! Ich würde am Donnerstag plötzlich weg sein und ihr aus England schreiben, dass ich ganz überraschend, quasi in letzter Sekunde, mitgenommen
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