Liverpool Street
er schaute einfach daran vorbei und legte das Brot vor meinen Teller.
Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich war tief verletzt. Da griff Gary nach dem Wörterbuch, blätterte und erklärte mir, dass sein Vater das Brot nicht direkt in meine Hand gelegt habe, um es nicht wie ein Zeichen des Bettelns oder der Armut aussehen zu lassen.
Ich sagte nichts. Langsam geriet ich wirklich in Panik. Das alles konnte nur ein schrecklicher Irrtum sein! Völlig unbekannte Menschen ließen mich an ihrem Tisch sitzen und an ihren komplizierten, geheimnisvollen Ritualen teilnehmen, und wenn ich nicht bald etwas unternahm, würden alle davon ausgehen, dass ich jetzt eine von ihnen war!
Dr. Shepard hatte in der Zwischenzeit auch Obst und Wein gesegnet; nun setzte er sich und die Mahlzeit begann. Gary zeigte auf die Teller und Schalen und erklärte, dass es Gemüsesuppe, Eier, Käse und Fisch gäbe, was ich alles zusammen essen könne. Nach Fleisch und Wurst hingegen müsse ich erst sechs Stunden warten.
Ich gehörte nicht hierher! Ich wollte nach Hause! Ich war mir selbst so fremd, dass ich mir, während Gary ein Stück Fisch auf meinen Teller legte, buchstäblich beim Dasitzen zuschauen konnte. Was ich sah, war unheimlich: ein zusammengekrümmtes kleines Mädchen an einem reich gedeckten Tisch, wuchtige Möbel, die für den kleinen Raum viel zu groß schienen, ein Kaminfeuer direkt in der Wand, einen riesigen siebenarmigen Leuchter auf dem Sideboard – Liebichs hatten so einen gehabt, und mit einem kleinen freudigen Stich des Wiedererkennens blickte ich zum Tisch zurück. Doch statt der lieben, vertrauten Gestalt von Bekkas Mutter saß dort eine strenge Frau im dunklen Kleid und an die Stelle von Thomas, Bekka und ihrem Vater waren zwei unbekannte Männer mit Kippas auf dem Kopf getreten.
Meine beiden Beine zuckten heftig unter dem Tisch, als wollten sie weglaufen, dann war die seltsame Anwandlung auch schon wieder vorbei. Ich saß still da, froh, dass niemand gemerkt hatte, welch unpassende Gedanken mir mal wieder durch den Kopf gingen.
»Tu einfach, was ich tue«, riet mir Gary.
Das hatte ich sowieso vorgehabt. Wild entschlossen, nichts mehr falsch zu machen, legte ich mir dieselben Dinge auf den Teller wie er, obwohl ich keinen Fisch mochte; ich versuchte meine Gabel genauso zu halten und als er sich zwischen Fisch und Käse den Mund ausspülte, machte ich es nach. Ich sah auch fast nicht hin, als Dr. Shepard seiner Frau das Brot schmierte, weil sie ihre Hand nicht gebrauchen konnte.
Doch plötzlich richtete er zum ersten Mal das Wort direkt an mich. »Well, Frances«, sagte er mithilfe von Gary und dem Wörterbuch, »natürlich kannst du uns nicht Mutter und Vater nennen, denn du hast ja schon eine Mutter und einen Vater. Was hältst du davon, Onkel Matthew und Tante Amanda zu uns zu sagen?«
Mir blieb der Bissen im Halse stecken. Dr. Shepard beugte sich zur Seite und klopfte mir freundlich auf den Rücken, was einen explosionsartigen Hustenanfall hervorrief.
Nie, nie in meinem ganzen Leben würde ich sie mit ihren Vornamen anreden! Aber konnte ich mich weigern? Wohl kaum. Also nickte ich so heftig, dass ich die Gabel fallen ließ.
»Sie kann auch nur Onkel und Tante sagen, wenn sie will«, sagte Mrs Shepard ruhig.
Oder überhaupt nichts, dachte ich und tauchte unter den Tisch.
Nachdem diese Angelegenheit geklärt schien, ließen sie mich in Ruhe und ich konnte mich wieder darauf konzentrieren, den Tücken einer orthodoxen Mahlzeit die Stirn zu bieten. Allmählich kam mir der Verdacht, dass diese nur zum geringsten Teil aus Essen bestand. Gary nahm Messer und Gabel in die jeweils andere Hand, als er zwischen Hart- und Weichkäse wechselte; er legte seine Serviette über das Glas, während er eine neue Brotschnitte schmierte. Ich hielt tapfer mit. Am Rande bemerkte ich, dass es im Raum immer stiller wurde, bis Garys Eltern schließlich ganz aufhörten zu reden und gebannt die kleine Spiegelbildpantomime beobachteten, die wir beide aufführten.
Die Rituale beim Obst waren mit Abstand die wunderlichsten. Gary legte die Serviette über seinen rechten Arm, während er einen Apfel schnitzelte, und von jedem einzelnen Schnitzel wurde dann ein kleines Stück in einer ordentlichen Reihe von oben nach unten neben den Teller gelegt. Ich hielt das für eine ziemliche Sauerei auf der frischen Tischdecke, aber na schön, ordentlich richtete ich meine Apfelstückchen untereinander aus und schob sie zum Schluss ein bisschen
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