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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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traute ich mich auch hinunter.
    Ganz hinten im Erdgeschoss, wo man schon dachte, das Haus wäre zu Ende, befand sich die Küche, in der Millie bereits damit beschäftigt war, mir Frühstück zu machen. Sie stellte einen Becher Tee, zwei Scheiben gebutterten Toast und ein Spiegelei vor mich hin und setzte sich, nachdem ich Platz genommen hatte, mir gegenüber, um Gemüse zu schnippeln. Dabei redete sie freundlich auf mich ein und hob die letzten Silben, als ob es Fragen wären, aber ich konnte ihr nicht weiterhelfen. Schließlich gab sie auf und beugte sich tief über ihr Gemüse. Ich weiß nicht, ob ihr oder mein Unbehagen das größere war, aber wir teilten wohl beide die Hoffnung, dass ich bald mit Frühstücken fertig war und wieder aus ihrer Küche verschwand.
    Leider stellte ich fest, dass es nicht so schnell gehen würde, wie ein Ei und zwei Scheiben Toast erwarten ließen. Die Schnitten schmeckten, als ob sie reines Salz daraufgestreut hätte! Als Millie aufstand, um etwas aus dem Schrank zu holen, klappte ich den zweiten Toast blitzschnell zusammen und schob ihn unter den Bund meines Rockes.
    Die Tür, die von der Küche in den Garten führte, ging auf und Mrs Shepard kam herein. »Ah, Frances!«, sagte sie, als sie mich sah, und streifte ein Paar Gummistiefel von ihren Füßen.
    Millie murmelte etwas. Es klang nicht glücklich. Die beiden Frauen tauschten einen Blick, als wollten sie sich gegenseitig Mut zusprechen. »Bist du fertig?«, fragte Mrs Shepard und spähte in meine halb leer getrunkene Tasse. »Dann …«
    Sie hielt mir die Tür auf und ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo ich mitten auf dem Teppich stehen blieb, während sie zu einem Sekretär ging und eine der Schubladen öffnete. »Ich freue mich, dass du so gut geschlafen hast«, sagte sie. »Wir haben heute viel vor. Wir müssen dich in deiner neuen Schule anmelden und du wirst natürlich deinen Eltern schreiben wollen. Ich gebe dir eine Karte mit unserer Adresse, die kannst du dem Brief beilegen.«
    Ich stand nur da und starrte sie an. Mrs Shepard hatte Deutsch gesprochen! Zumindest eine Art von Deutsch … eine Mischung aus Frau Seydenstickers Jiddisch und dem einen oder anderen Wort in meiner Muttersprache. Ich hatte fast alles verstanden!
    Sie drehte sich zu mir um und schien sich zu freuen, dass die Überraschung geglückt war. »In dem Altenheim, in dem ich arbeite, sprechen viele Bewohner nur Jiddisch«, erklärte sie. »Wenn man sich mit ihnen unterhalten will, muss man es lernen.«
    Schüchtern ging ich einen Schritt auf sie zu und nahm, ohne sie anzusehen, die Visitenkarte, die sie mir hinhielt. »Brauchst du Briefpapier?«, fragte sie.
    Ich schüttelte den Kopf. »Du redest wohl nicht viel?«, meinte Mrs Shepard.
    Ich senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Jetzt, wo sie es sagte, fiel mir auch auf, dass ich noch nicht ein einziges Wort zu Garys Eltern gesagt hatte, seit ich hier angekommen war. Und das war noch nicht alles: Beim Blick nach unten offenbarte sich mir außerdem der fast handtellergroße Fettfleck an meinem Bauch, der, während ich daraufstarrte, sogar noch weiter die Bluse hinaufzuwachsen schien! Leider hatte Mrs Shepard ihn auch gesehen. Sie sagte nichts, aber eine ihrer Augenbrauen verschwand beinahe unter ihrem Haaransatz, während die andere am Platz blieb. Keine Ahnung, wie sie das machte. Ich griff unter meinen Rockbund und krümelte beschämt den geschmolzenen Toast hervor.
    »Einige meiner alten Leute gehören auch nicht zu den Freunden von Salzbutter.« Mrs Shepard streckte diejenige ihrer beiden Hände aus, die keinen Verband trug. Ich legte hinein, was vom Toast übrig war, und wünschte, ich könnte mit einem erlösenden Puff! auf der Stelle durch den Kamin verschwinden.
    Aber kaum dass ich den Toast losgeworden war, ging es mir tatsächlich besser. Ich konnte fast so tun, als hätten weder das matschige Etwas in Mrs Shepards linker noch der Verband an ihrer rechten Hand irgendetwas mit mir zu tun. »Dann zieh dir doch jetzt am besten eine saubere Bluse an«, schlug sie vor, »und danach gehen wir zu deiner neuen Schule.«
    Meine neue Schule! Ich hatte nicht erwartet, dass ich gleich am ersten Tag würde hingehen müssen, und bei dem Gedanken an Horden fremder Kinder beschlich mich eine düstere Vorahnung. Meine Laufbahn auf der Volksschule hatte bisher vor allem aus einer Hauptrolle beim Schubsen, Zanken und Spotten bestanden, das aber immerhin auf Deutsch, und ich fühlte mich keineswegs

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