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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Mrs Shepards Griff nach meiner Kette den Kopf so weit nach hinten gebogen, wie es ging, und schielte die beiden ängstlich um Hilfe an. Sie waren verantwortlich, sie hatten mich schließlich mitgenommen! Gleichzeitig fiel mir ein, dass sie gar nichts dafür konnten; sie hatten das Kreuz ja nicht sehen können, da ich die ganze Zeit Mantel und Schal getragen hatte.
    Beide betrachteten ernst und schweigend das Problem an meinem Hals und begannen schließlich gleichzeitig zu reden: Dr. Shepard ruhig und begütigend, Gary gereizt und vorwurfsvoll. Ich hörte, wie er von »Herrn Hitler« sprach, und es war wohl dieser Name, der mir unvermittelt eine Reaktion abnötigte. Meiner Kehle entrang sich ein Knurren, mein Kopf schoss nach vorn und meine Zähne schlugen mit einem wilden Knack! in die zarten Knorpel und Knöchelchen eines feindlichen Handballens. Meine Kette war sofort frei; ich stürmte aus dem Zimmer, als wären die Furien persönlich hinter mir her.
    Mrs Shepard selbst war so verblüfft, dass sie erst mit zwei Sekunden Verzögerung ihren Schmerzensschrei losließ. Er fand ein Echo in der Küche, wo Millie dem Klang nach sämtliche Töpfe aus der Hand fielen, noch während ich die Treppe hinaufjagte, die Tür meines Zimmers zuwarf und in den Kleiderschrank sprang.
    Zitternd hockte ich im Dunkeln zwischen Jungenkleidern und hörte meine Zähne klappern. Ich versuchte zu beten, aber es funktionierte nicht. Wieder und wieder lief derselbe demütigende Film vor meinen Augen ab, untermalt von einer wirren Tonspur: Das kann nicht wirklich passiert sein … nicht jüdisch … ich kann hier nicht bleiben … nicht jüdisch … etwas stimmt nicht mit mir … nicht jüdisch …
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort im Schrank saß, aber es war Zeit genug, dass mein ganzes Leben vor mir ablief. Mamu, Papa, Bekka, das Flüchtlingskomitee … ich hatte sie alle verraten. Der schmerzvolle Abschied, das Zerwürfnis mit meiner Freundin, die Kosten und Mühen meiner Rettung … umsonst. Das Gefühl hoffnungslosen Versagens überwältigte mich mit einer solch niederschmetternden Endgültigkeit, dass ich nicht einmal heulen konnte.
    Sie würden mich nach Deutschland zurückschicken, so viel stand fest. Ich hatte meine Chance gehabt und vertan. Eine kleine Stimme in mir meldete sich zwar mit dem Hinweis, dass alles Mrs Shepards Schuld war, aber das war kein Trost. Im Gegenteil: Trotz aller Grübeleien über die Winterbottoms hatte ich mir nie wirklich vorstellen können, wie es sein würde, mit Haut und Haaren ganz vom guten Willen meiner Pflegefamilie abhängig zu sein. Sie halfen, mein Leben zu retten … und gleichzeitig war ich ihnen ausgeliefert, ihrem Urteil, ihrer Gnade, ihren Launen. Plötzlich wurde mir klar, was das bedeutete, und seit der Begegnung mit dem Wolf hatte ich nicht mehr solche Angst gehabt.
    Nach einer Weile hörte ich Schritte. »Francesca?«, fragte Gary. Ich hörte ihn vor dem Schrank stehen und atmen. »Komm heraus!« Ich gab keine Antwort.
    »Bitte! Francesca!« Es klang, als setzte er sich vor den Kleiderschrank auf den Boden. Plötzlich kamen mir doch die Tränen. »Ich hasse Francesca «, heulte ich.
    »Kein Problem. Ich gebe dir einen neuen Namen. Alte jüdische Tradition. Verstehst du? Neues Leben – neuer Name?« Er horchte. »Willst du einen neuen Namen?«, lockte er.
    Ich biss die Zähne zusammen. Ein neuer Name … als ob das irgendetwas ändern würde!
    Jetzt klopfte er an die Tür. »Komm schon. Ich wollte immer eine kleine Schwester haben!«
    Mein Entschluss, bis in alle Ewigkeit im Schrank zu bleiben, wankte ein wenig. Plötzlich fiel mir ein, dass Gary mich offenbar verteidigt hatte, verteidigt gegenüber seiner eigenen Mutter. Wenn ich überhaupt jemandem trauen konnte, dann ihm. Ich hörte ihn etwas von good bye, school und supper erzählen, dem englischen Abendessen. Dann fluchte er leise und sagte zu sich selbst: »Ich brauche ein dictionary .«
    Als sich die Schranktür öffnete, sah Gary sehr überrascht aus; wahrscheinlich hatte er genau wie ich nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde. »He!«, begrüßte er mich. Ich kroch an ihm vorbei zu meinem Koffer und holte mein Wörterbuch heraus, das ich ihm stumm reichte. Er nahm es mit einer Rührung entgegen, als habe er soeben ein kleines wildes Tier gezähmt, was, wenn man meinen letzten öffentlichen Auftritt bedachte, kein allzu abwegiger Gedanke war. Unter meinem Fenster schlug die Haustür zu;

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