Liverpool Street
musste, was mir in Gegenwart von Gary allerdings etwas peinlich war.
Zögernd blieb ich noch einmal stehen, Garys Blick folgte dem meinen in Richtung des Röhrchens … und wieder begann er schallend zu lachen.
Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie gekränkt ich war. Gary hörte auf zu lachen, zeigte auf das Röhrchen und sagte langsam: »Das … ist eine Mesusa. Wir … sind orthodox.«
»Orthodox?«, wiederholte ich verblüfft.
Gary legte die Hand an das Röhrchen und wiederholte: »Mesusa. Darin: zwei Texte aus der Tora. Verstehst du? Kein Problem«, fügte er hinzu, als er mein völlig verwirrtes Gesicht sah. »Das lernst du. Willst du Millie … für Koffer?«, gestikulierte er.
Ich schüttelte den Kopf, er ging mit einem »See you later« hinaus, und ich versuchte mir die erstaunliche Tatsache zu vergegenwärtigen, dass ich soeben ein richtiges englisches Gespräch geführt hatte. Meine Lehrerin in Satterthwaite Hall wäre stolz auf mich gewesen, auch wenn ich offenbar kurz davor gestanden hatte, einen religiösen Gegenstand zu beschädigen.
Aber orthodox! Diese Nachricht musste ich erst einmal verdauen. Irgendetwas sagte mir, dass meine Eltern nicht begeistert sein würden, obwohl die Shepards weder Bärte noch Schläfenlocken trugen und wahrscheinlich einem ganz anderen Zweig angehörten als die Seydenstickers. Ich beschloss, noch einige Briefe lang zu warten, bevor ich anfing, sie schonend einzuweihen.
Voller Vorfreude sah ich mich um, ging umher, fasste alles an und nahm mein Zimmer in Besitz. Mein Zimmer! Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass ich ein eigenes Zimmer besessen hatte. Mein Fenster konnte man nach oben schieben und dahinter kam gleich noch ein zweites zum Vorschein, um Wind und Kälte abzuhalten. Mein Regal enthielt zahlreiche englische Kinderbücher, in denen die Vorbesitzer, Gary Shepard und Amanda O’Leary, ihre Namen wie einen kleinen Gruß an mich hinterlassen hatten. In meinem Bett erwarteten mich eine weiche blaue Decke und große Kissen; ich konnte nicht anders, als Mantel, Schal und Schuhe auszuziehen und mich mitten am Tag einfach hineinfallen zu lassen. Über mir schwebte an einer Hängelampe ein Mobile aus Sonne, Mond und Sternen.
Ich schloss die Augen und fühlte mich ganz unerwartet zu Hause, eingehüllt in Wärme und Freundlichkeit. Die Leute, die dieses Zimmer eingerichtet hatten, mussten sich sehr darauf gefreut haben, ein Kind aufzunehmen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, dass ich dieses Kind sein durfte – und sei es nur für die kurze Zeit, bis meine Eltern mir nach England folgten.
»Francesa, der Tee ist fertig!«
Wieder hörte ich meinen seltsamen neuen Namen rufen. Zögernd rollte ich mich vom Bett, ging die Treppe hinunter und folgte den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer kamen. Gary erzählte etwas, immer wieder von seinem eigenen Lachen unterbrochen. »Whaaam!«, explodierte er an einer Stelle, gab also wahrscheinlich gerade meine Begegnung mit der Autotür zum Besten. Seine Eltern hörten ihm so aufmerksam zu, dass ich mindestens eine halbe Minute verlegen in der Tür stand, bis mich jemand bemerkte.
Ich erkannte Mrs Shepard sofort von dem Foto, obwohl sie deutlich älter geworden war und ihr langes Haar einer faden, helmartigen Frisur geopfert hatte. Sie trug ein grau kariertes Kostüm und sah ernst, fast ein wenig einschüchternd aus, doch als sie mich entdeckte, erhellte nicht nur ein spontanes, herzliches Lächeln ihr Gesicht, nein, sie stand sogar auf und kam mir entgegen!
»Was für ein hübscher Junge«, sagte sie heiter. Ihre Stimme war warm und dunkel; tiefe, nach oben gebogene Lachfältchen umgaben ihre Augen wie Sonnenstrahlen. Ich blieb wie angewurzelt an meiner Türschwelle. Mrs Shepard war fast zu schön, um wahr zu sein.
Leider hatte ich damit auf eine Weise Recht, die ich niemals vorhergesehen hätte. Bestürzt sah ich das Lächeln in Mrs Shepards Gesicht gefrieren, je näher sie mir kam; ja, mit jedem Schritt wurde es kälter um uns beide. Sie starrte auf etwas; mir war nicht klar, was das sein sollte, aber als sie die Hand nach mir ausstreckte, war ich schon wie gelähmt.
»Was ist das?«, fragte sie mit veränderter Stimme, beinahe tonlos. Ich fühlte eiskalte Finger an meinem Hals, und als sie sich zu Dr. Shepard und Gary umwandte, lag mein Silberkreuz in ihrer Hand. »Wir wollten ein jüdisches Kind!«, sagte sie erschüttert.
Dr. Shepard und Gary standen ebenfalls auf und kamen näher. Ich hatte unter
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