Liverpool Street
darauf vorbereitet, englischen Kindern zu begegnen. Sollte ich mich nicht vorher wenigstens halbwegs in der Gegend auskennen und wissen, wohin ich rennen konnte? Zwar bestand eine gewisse Chance, dass man mich in England in Ruhe ließ, aber konnte ich wirklich sicher sein?
Der Fußweg, den wir zu meiner künftigen Schule zurücklegten, trug nicht unbedingt dazu bei, meine Zuversicht zu heben. Wir kamen an Dutzenden kleiner Häuser vorbei, bogen mal in diese, mal in jene Straße ein, aber es gab weder Hinterhöfe noch Nebengebäude, höchstens zwei, drei kleine Pfade zwischen Häusern, die womöglich an einer Mauer endeten …
Meine Füße bohrten sich in den Boden. Als Mrs Shepard bemerkte, dass ich nicht mehr mitging, lagen schon mindestens fünf Meter Weg zwischen uns, und die ersten Worte, die ich je an sie richtete, lauteten: »Entschuldigung … wo versteckt man sich denn hier?«
Mrs Shepard sagte längere Zeit nichts, dann kam sie langsam zu mir zurück. »Man versteckt sich nicht«, sagte sie. »Du bist jetzt in Sicherheit. Deshalb bist du doch gekommen.«
»Ach ja«, murmelte ich niedergeschlagen und setzte mich wieder in Bewegung.
Diesmal war es Mrs Shepard, die noch einige Sekunden stehen blieb, bevor sie hinter mir hereilte. Als sie mich erreicht hatte, bekam ich ein ganz merkwürdiges Gefühl, so als würde sie mich gleich an die Hand nehmen. Schnell ließ ich meine beiden Hände in den Manteltaschen verschwinden, worauf wir die Schule ohne weitere Unterbrechungen erreichten.
Dort war gerade Unterrichtszeit und ich sah nur einen einzigen kleinen Jungen, der mürrisch mit dem Gesicht zur Wand neben einer Klassentür stand. Es roch nach alten Landkarten und Suppe und ja, Mrs Shepard bestätigte mir, dass man in der Schule Mittagessen bekam und auch eine koschere Diät haben konnte, wenn man wollte. Ich antwortete, koscher wäre in Ordnung, aber das mit der Diät wüsste ich noch nicht, woraufhin wir nach einiger wechselseitiger Überraschung klärten, dass sie das englische Wort diet benutzt hatte, was nichts anderes als Kost bedeutet.
Vor der Tür des Direktors mussten wir eine Weile warten, wurden dann hereingerufen und der Direktor stellte sich als eine Frau heraus. Mrs Collins fragte als Erstes nach Gary, ich hörte das Wort war , Krieg, sah Mrs Shepards Lächeln gefrieren und dachte erstaunt: Wieso Krieg? Gary ist doch bloß im Internat!
Dann wandte sich Mrs Collins an mich und ich gab mir große Mühe, ihr zu folgen, aber leider hatte ich mein Wörterbuch nicht mitgebracht und musste bald aufgeben. Mrs Collins ging es offenbar ebenso, denn nach weniger als einer Minute teilte sie Mrs Shepard mit, dass sie mich in die erste Klasse stecken würde.
Mrs Shepard sah sie ungläubig an. »Frances ist elf! Sie können sie doch nicht zu den Kleinen stecken!«
Aber Mrs Collins ließ sich nicht überzeugen. So waren wir ziemlich rasch wieder draußen und gingen denselben Weg zurück, nur wesentlich schneller, wie mir schien.
»Dann üben wir eben zu Hause!«, sagte Mrs Shepard, nachdem sie Dampf abgelassen hatte. »Nach den Sommerferien gehst du in die fünfte Klasse, darauf kann sie sich verlassen.«
Erster Brief meiner Mutter an meine neue Adresse, 121 Harrington Grove, Finchley, London:
Berlin, 27. Februar 1939. Mein liebes Ziskele, du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Freude dein Brief in unserem Haus ausgelöst hat. Papa, Tante Ruth und Onkel Erik lassen dich lieb grüßen. Papa wird dir noch selbst schreiben, aber gerade heute geht es ihm nicht so gut, und ich bin froh, dass er jetzt ein wenig schläft.
Dass du es so gut getroffen hast! Man hört ja mittlerweile von Kindern, die in Familien untergekommen sind, die nicht mal eine Toilette im Haus haben. Nun muss ich mir wirklich keine Sorgen mehr um dich machen. Inzwischen wirst du auch deine ersten Tage in der Schule hinter dir haben. Bis wir uns wiedersehen, hast du vielleicht schon sehr gut Englisch gelernt, dann musst du Papa und mir helfen!
Hier bei uns ist es in den letzten Wochen ruhig geblieben, man möchte hoffen, dass die Plage ihren Höhepunkt erreicht hat. Wir warten täglich auf Nachricht bzgl. der Ausreise. Hast du schon etwas in Erfahrung bringen können? Nein, bestimmt nicht, du bist ja erst wenige Tage dort! Schatz, du musst uns mehr von den Shepards schreiben, das ist wirklich der einzige Lichtblick für uns im Augenblick. Du hast Dr. Shepard schön beschrieben, Gary auch – schwärmst du vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher