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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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zurecht, damit der Abstand stimmte. Gary wartete freundlich, bis ich fertig war, dann drückte er den Mittelfinger an den Daumen, ließ es mich nachmachen und legte das Handgelenk vor den Apfelstückchen ab.
    Das war nun wirklich seltsam. Unsere Augen begegneten sich über den Tisch hinweg, ich sah ihn grinsen … und ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er schon ein Stück Apfel gegen meinen Arm geschnippt!
    Mein Unterkiefer klappte herunter. Eine wahre Salve Apfelstückchen traf mich, bis mir endlich ein Licht aufging. Die ganze Zeit hatte Gary mich nach Strich und Faden verulkt!
    Mein Schock währte etwa zwei Sekunden, dann schob ich, ohne lange nachzudenken, meinen Teller aus dem Weg und schoss zurück. Gary gackerte wie ein Huhn und begann unter dem Tisch herumzukriechen, um seine Munition wieder aufzufüllen.
    »Gary, jetzt ist es gut. Setz dich. Gary!« Seine Mutter versuchte ihn festzuhalten, aber es war nichts zu machen. Selbst Dr. Shepard feuerte ein Apfelstückchen auf seine Frau ab, als es versehentlich bei ihm landete. Schließlich gab sie auf und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, während mein erstes Abendessen unter ihrem Dach in verdächtig unorthodoxen Handlungen endete.
    Dr. Shepard sprach nicht enden wollende Dankgebete, als wir mit dem Essen fertig waren. Ich war nicht ganz sicher, ob das sowieso dazugehörte oder eine Art Abbitte dafür war, dass wir mit einem Lebensmittel geschossen hatten. Als es schon aussah, als käme er zum Ende, blickte Mrs Shepard auf mich und sagte, er habe noch etwas vergessen.
    »Ach ja«, erwiderte Dr. Shepard und alle lächelten mich an, als er von Neuem loslegte. Offenbar ging es bei dem Gebet um mich. Ich wurde knallrot, aber zum Glück wurde nicht von mir erwartet, dass ich jetzt auch etwas sagte.
    Ob ich Lust hätte, mitzukommen und Gary ins Internat zu bringen, fragte Mrs Shepard, als ich später die Treppe hinauf in mein Zimmer gehen wollte. Sie stand im Mantel an der Haustür und wartete auf ihren Sohn, der nach oben gelaufen war, um seinen Koffer zu holen. Ich schüttelte zögernd den Kopf. Natürlich hätte ich nichts lieber getan, als mitzukommen – aber das hätte bedeutet, dass ich allein mit ihr hätte zurückfahren müssen.
    »Dann sehen wir uns um acht Uhr zum Frühstück«, sagte sie, wandte sich ab und begann in den Zetteln zu suchen, die auf der Schale neben dem Telefon lagen. Das bedeutete wohl so viel wie »Gute Nacht«. Ich wartete noch einen Augenblick, dann drehte ich mich ebenfalls um und ging wortlos die Treppe hinauf.
    Gary kam mir mit seinem kleinen Koffer entgegen und klopfte mir herzlich auf die Schulter, als ich mich an ihm vorbeiquetschte. »Wir sehen uns Freitag!«
    In meiner Kehle drückte ein ganzer Liter Tränen, aber mir gelang ein Lächeln. Ich sah ihm nach, als er leichtfüßig die Treppe hinuntersprang, den Arm um seine Mutter legte und mit ihr hinausging, wobei sich beide wieder einen Fingerkuss von ihrem heiligen Röhrchen abholten. Ich lief in mein Zimmer, um dem Auto nachzublicken, aber der Baum direkt vor meinem Fenster erlaubte mir nicht, mehr als ein paar Scheinwerferlichter zu sehen.

7
    Ein warmer heller Blitz schlug mir direkt in die Augen, ich warf schützend beide Arme vors Gesicht und schrie aus voller Kehle: »Nein!«, worauf die arme Millie, die nichts anderes getan hatte, als den Vorhang beiseitezuziehen, um die Morgensonne einzulassen, vor Schreck rückwärts gegen die Wand prallte. »Goodness!«, entfuhr es ihr.
    Ich setzte mich auf und blinzelte verwirrt. Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, wo ich mich befand. Ich hatte eine Familie gefunden. Sie würden mich behalten. Eine Welle von Verzagtheit ergriff mich, wollte in Form von Tränen wieder heraus und fuhr stattdessen wie ein Bleigewicht in meine Beine.
    »Get up!«, forderte Millie mich auf. Aber alles von mir, was sich unter der Decke befand, war wie gelähmt, ein einziger dumpfer Schmerz. Millie machte ein ratloses Gesicht, stellte etwas auf meinen Nachttisch und ging. Es war ein Wecker, und der Wecker zeigte halb zehn.
    Halb zehn! Vor Entsetzen vergaß ich augenblicklich meine Lähmung und sprang aus dem Bett. Mrs Shepard hatte fast nichts zu mir gesagt, aber was sie gesagt hatte, war: »Acht Uhr Frühstück.« Hastig raffte ich einige Kleidungsstücke zusammen, tappte durch den Flur in das eiskalte Badezimmer und zog mich nach einer kurzen Katzenwäsche an. Nachdem ich etwa fünf Minuten am Treppenabsatz verbracht hatte,

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