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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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wahrscheinlich brachte Dr. Shepard gerade seine Frau ins Krankenhaus.
    »Komm näher!«, lockte Gary mich und wollte offenbar, dass wir beide gemeinsam ins Wörterbuch schauten. Zögernd rückte ich ein kleines Stück auf ihn zu. Er blätterte schon eifrig, suchte ein Wort heraus und hielt es mir hin. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich neben ihn zu setzen. Boarding school stand da, das englische Wort für Internat. Ich nickte. Er wiederholte es auf Englisch, ich musste es auf Deutsch sagen – als ob auch er eine neue Sprache lernen wollte!
    Es dauerte eine Ewigkeit, die Informationen zusammenzusetzen, aber am Ende dieser umständlichen Prozedur hatte ich erfahren, dass Gary in einem Internat lebte und nur wochenends nach Hause kam. Sein Vater war gar kein richtiger Doktor, sondern Doktor der Romanistik, was mit Sprachen zu tun hatte, und Garys Mutter tat sonntags Dienst in einem jüdischen Altenheim und war deshalb nicht mit nach Satterthwaite Hall gekommen.
    So ein Pech, dachte ich bitter. Wenn sie mitgekommen wäre, hätten die Shepards mit Sicherheit nicht mich ausgesucht und uns allen wäre einiges erspart geblieben!
    »Und was ist jetzt mit deinem neuen Namen?«, fragte Gary erwartungsvoll.
    Ich zögerte. Am liebsten hätte ich geantwortet, dass ich mir nichts daraus machte, aber langsam wurde ich müde von all dem Starren in mein Wörterbuch. Also nickte ich, Gary ließ mich aufstehen und legte mir die Hand auf die Schulter. »Von heute an … sollst du Frances heißen«, erklärte er feierlich.
    »Frances«, wiederholte ich verblüfft, und gleich noch einmal: »Frances …«
    Ich sah ihn bewundernd an. Er hatte einfach die andere Hälfte meines Namens genommen! Ich hatte nun einen halben Namen für Deutschland und einen halben für England.
    Das war so unerwartet, so wunderbar passend, dass mein Herz gleich wieder sank. Denn eigentlich hatte ich Gary als Nächstes erklären wollen, dass ich nach Satterthwaite Hall zurückgebracht werden wollte. Nun brachte ich es plötzlich nicht mehr fertig. Es war, als wäre von diesem ganzen Tag nur ein einziger Satz übrig geblieben, nämlich der, dass Gary mich zu seiner kleinen Schwester erklärt hatte.
    Zögernd nahm ich das Wörterbuch und fragte statt all der anderen Dinge: »Hilfst du mir?«
    Ich dachte an die neue Schule, auf die ich würde gehen müssen, die Sprache, die ich nicht verstand. Ich dachte an Hilfe für meine Eltern. Ich dachte an Hilfe gegen Garys eigene Mutter. Es gab so viele Dinge, bei denen ich Hilfe brauchte, dass es mir äußerst fraglich erschien, irgendjemand könne sich freiwillig dafür melden.
    Gary selbst schien keineswegs klar zu sein, worauf er sich da einließ, denn er antwortete zuversichtlich: »Klar! Wenn ich heute noch zum Abendessen bleibe, zeige ich dir alles, was du wissen musst.«
    Was ich wissen muss?, wiederholte ich im Stillen. Wovon in aller Welt redete er?
    Zum zweiten Mal an diesem Sonntag stand ich in der Wohnzimmertür der Shepards und wartete darauf, vorgestellt zu werden. Immerhin stand ich diesmal nicht alleine da. Gary legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Mum, Dad … das ist meine Schwester Frances.«
    Mrs Shepards rechte Hand war verbunden, eine steile Falte stand zwischen ihren Augenbrauen und man sah Garys Eltern deutlich an, dass sie bereits darüber diskutiert hatten, ob sie mich behalten sollten. Ihre Mienen spiegelten auf verblüffende Weise die Zweifel wider, die ich selbst empfand – der Einzige, der sich meines Bleibens völlig sicher zu sein schien, war Gary. Ich sah seine Mutter schlucken, als er mich als seine Schwester vorstellte.
    Aber offenbar konnten die beiden ihrem Sohn nichts abschlagen. Ich wurde an die Längsseite des Esstischs gebeten, Gary gegenüber, und darauf hingewiesen, dass dies von nun an mein Platz sein würde. Gary hatte mein Wörterbuch mitgenommen und legte es zwischen uns auf den Tisch, wo es inmitten von Kerzenleuchtern, fremden Schalen und Schüsseln ebenso verloren aussah, wie ich mich selber fühlte.
    Das Abendessen begann, indem wir uns mithilfe eines Kruges über einer Schüssel die Hände wuschen und erst abtrocknen durften, nachdem Dr. Shepard ein längeres Gebet in einer Sprache gesprochen hatte, die an nichts erinnerte, was mir jemals zu Ohren gekommen war. Er schnitt das Brot an und ich dachte, jetzt ginge es los, aber wieder lag erst ein Gebet vor uns, bevor er jedem von uns eine Scheibe abschnitt. Höflich streckte ich meine Hand aus, doch

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