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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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einen ziemlich schlimmen Start, das war meine Schuld und dafür möchte ich mich entschuldigen.«
    Was mir den Abend beinahe ruinierte, denn es ging einfach nicht, dass Erwachsene sich bei Kindern entschuldigten, so etwas hatte ich noch nie gehört und ich war so gut wie sicher, dass es keinerlei Verhaltensregeln für Kinder gab, wenn es ihnen dennoch passierte. Am nächsten Tag fiel mir ein, dass ich hätte sagen können: »Tut mir leid, dass ich Sie gebissen habe«, aber sie war nicht darauf vorbereitet, vierundzwanzig Stunden vor mir zu stehen und auf meine Antwort zu warten. »Das war’s«, sagte sie und ließ mich gehen, und als wir später am festlich gedeckten Tisch saßen, hatte ich das Gefühl, es stünde jetzt noch viel mehr zwischen uns, als vorher da gewesen war.
    Doch es war die fünfte Mrs Shepard, die mich am meisten von allen verwirrte. Zuzusehen, wie sie sich ein durchsichtiges schwarzes Tuch aufs Haar legte, die Schabbatkerzen entzündete und auf Hebräisch den Segen darüber sprach, jagte warme Schauer über meinen Rücken. Der Widerschein der Flammen auf ihrem Gesicht, die Freude in ihrer Stimme, ihre raschen anmutigen Bewegungen … all das schien mir plötzlich so unfassbar, so unerträglich schön, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als ein Teil dieses Geheimnisses zu sein.
    Denn es war und blieb ein Geheimnis für mich, wie diese Leute es feiern konnten, jüdisch zu sein. Was ich gelernt hatte zu verbergen, ja zu hassen, war im Haus meiner Pflegeeltern eine Quelle der Freude, umgeben von Zeremonien und Gesängen bei Tisch und einem ganzen Tag der Ruhe, an dem die Shepards keinerlei Arbeit verrichteten, nicht einmal Auto fuhren, und eine nicht jüdische Nachbarin spätabends vorbeischaute, um die Lichter zu löschen.
    Ich hatte mir den Kopf darüber zerbrochen, ob ich mich für diesen kleinen Dienst melden sollte, ob man dies vielleicht sogar von mir erwartete, die ich gar nicht richtig jüdisch war. Doch je mehr ich darüber nachdachte, was für mich in diesem Haus angemessen war, desto ratloser wurde ich und desto weniger war mir klar, was ich denn eigentlich war, wenn nicht jüdisch … Denn irgendetwas in mir öffnete sich, schnell und gänzlich unerwartet, fühlte sich nicht mehr fremd, sondern schien auf rätselhafte Weise anzukommen: in den Riten, Kerzen und Lichtern, selbst in den Schabbatverboten, die, wenn man nicht ständig daran dachte, was man alles nicht durfte, eine solche Ruhe mit sich brachten.
    Zum Schabbat gehörte auch Gary. Im ganzen Haus war die Vorfreude auf ihn fast mit Händen zu greifen; er steckte in den Challot, den Schabbatbroten, die ich seiner Mutter zu backen half, im Baden, Haarewaschen und sorgfältigen Ankleiden, im festlich gedeckten Tisch. Mit seinem Eintreffen am Freitagabend begann auch das Fest.
    Und doch brauchte ich nur an meine eigenen Eltern zu denken, um mir in Erinnerung zu rufen, dass all dies nicht für mich bestimmt war, dass ich zu einem anderen gehörte, dessen Zeichen ich an einer Kette um den Hals trug. Ich würde Jesus, Mamu und Papa nicht verraten für ein wenig Kerzenschein, für all die schönen und klugen Rituale in diesem Haus. Und ich würde die Mesusa nicht anfassen, auch nicht heimlich, und wenn es mir noch so in den Fingern brannte!
    Es war aber auch zu dumm: Jedes Mal, wenn ich eine Mesusa im Türrahmen passierte, hatte ich neuerdings einen Anflug von Schuld, weil ich die Einzige in diesem Haus war, die ihr keinen Gruß entbot. Vor allem, seit ich wusste, was auf dem kleinen Stück Papier stand: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deinen Kräften, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«
    Diese Gebote kannte ich, davon hatte auch Jesus gesprochen, doch durfte ich deshalb ein jüdisches Röhrchen grüßen? Bestimmt nicht! Ich behalf mir damit, dass ich nur noch mit gesenktem Kopf durch die Türen ging, damit ich die Mesusa gar nicht erst sehen musste.
    Mrs Shepard hatte Recht gehabt, es war noch sehr schön an diesem späten Märznachmittag, auch wenn wieder der blassgelbe Dunst darüberlag, den sie als smog bezeichneten. Ich fing sofort an zu laufen, nachdem ich das Gartentor hinter mir geschlossen hatte. Für gewöhnlich klarte mein Kopf dabei sehr schnell auf, aber heute wurden lediglich all die beunruhigenden Gedanken durchgerüttelt, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatten. Das Café Vienna, das ich noch nicht gesucht, die Bittbriefe

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