Liverpool Street
fragen. »Das sind die Anzeigen, die jeden Morgen auf den englischen Frühstückstischen landen«, sagte der ältere Herr. »Tut mir leid, dass ich sie dir zeigen muss, aber ich glaube, es ist besser, du weißt, womit du es zu tun hast.«
»Aber …«, begann ich, doch meine Stimme versagte. Nur meine Hand hob sich in einer fast vorwurfsvollen Geste, die den Raum umfasste, den Klavierspieler, den Geiger, die Torten, all die Leute an den Tischen.
»Die meisten von uns sitzen schon seit Jahren hier«, antwortete der ältere Herr. »Jeden Tag die gleichen Gesichter an den gleichen Tischen. Ja, sieh dich nur um. Hier sitzen wir und feiern, was wir verloren haben.«
»Wenn Sie nur sitzen und feiern«, sagte ich und gab der Zeitung einen Schubs, »ist es kein Wunder, dass es niemand von den anderen mehr rüberschafft.«
Ich stand auf. Plötzlich hatte ich eine so große Wut, dass ich nur noch hinaus wollte. Es war, als könnte ich direkt in die Zimmer der Leute sehen, die die Anzeigen aufgegeben hatten, die wie meine und Bekkas Eltern, wie Tante Ruth und Onkel Erik festsaßen und verzweifelt auf Hilfe warteten. Und hier saßen andere, aßen Torte und fanden sich mit allem ab!
»Wende dich an die Jüdische Flüchtlingshilfe«, sagte der ältere Herr. »An das Rote Kreuz. An die Kirche. An den Premierminister. Klopfe an großen Häusern an, vielleicht braucht man dort eine Hilfe. Aber du solltest gut Englisch sprechen, wenn du das tust. Du musst einen guten Eindruck machen; sie werden von dir auf deine Familie schließen. Weißt du«, und plötzlich lächelte er, »ich glaube, du könntest es schaffen.«
»Danke für die Schokolade«, murmelte ich.
»Komm mal wieder hier vorbei! Ich bin Professor Julius Schueler, und du findest mich immer um diese Zeit an diesem Tisch …«
Die Straße zurückgehen. Es schien, als bräuchte ich meine ganze Kraft, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die beiden wollten mir einfach nicht gehorchen. Hatte ich dem alten Professor Unrecht getan? Woher wusste ich, dass er niemandem geholfen hatte? Vielleicht hatte er es ja versucht …
Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte zurück. Professor Schueler war gerade dabei zu zahlen und seinen Mantel anzuziehen. Er lächelte, als er mich sah. »Die Adressen«, keuchte ich. »Vom Roten Kreuz. Vom Premierminister. Haben Sie die?«
»Natürlich«, sagte er gelassen. »Die haben wir alle.«
»Mum sagt, du legst dich jetzt richtig ins Zeug beim Englischlernen«, bemerkte Gary. Wir saßen an meinem Fenster und hielten am dunklen Nachthimmel nach den ersten drei Sternen Ausschau, die das Ende des Schabbats ankündigten. »Sie ist sehr beeindruckt von deinen Fortschritten.«
»Und du?«, fragte ich keck.
»Ich? Ich bin voller Vorfreude! Wir müssen nur noch jedes dritte Wort nachschlagen. Bald wird es ein Vergnügen sein, mich mit dir zu unterhalten!«
Das war nicht ganz die Antwort, die ich hatte hören wollen, aber doch eine typische Gary-Antwort und damit durchaus angetan, mich glücklich zu machen. Schon am Freitagmorgen war ich ganz zappelig gewesen bei der Vorstellung, dass er in nur wenigen Stunden wieder zu Hause sein würde, und selbst der lange Synagogenbesuch zum Schabbatbeginn war wie im Flug vergangen, weil ich vom Balkon der Frauen Garys Kippa beobachten konnte, die mit denen der anderen Männer im Gebet hin und her wippte.
»Willst du ein Geheimnis wissen?«, fragte ich. »Ich habe diese Woche an den Premierminister geschrieben.«
»Du hast an … du meinst Mr Chamberlain?«
Nun war er doch angemessen verblüfft! »Ja, so heißt er«, antwortete ich zufrieden. »Er soll mir helfen, dass meine Eltern ein Visum bekommen. Aber sag es nicht weiter!«
»Warum nicht?«, fragte Gary.
Weil man darüber nicht redet!, dachte ich vorwurfsvoll. Weil man über alles, was mit Ausreise zu tun hat, außerhalb der eigenen vier Wände nur tuschelt! Innerlich schüttelte ich den Kopf darüber, wie wenig die Juden anderswo doch wussten.
Gary sagte: »Ich habe auch ein Geheimnis. Aber das darfst du wirklich nicht weitererzählen, sonst gibt es ein Unglück. Meine Eltern glauben, dass ich im Sommer auf die Universität gehe. Aber das werde ich nicht. Ich mache die Aufnahmeprüfung für die Royal Navy.«
Ich sah ihn fragend an. Er griff nach einem der kleinen Modellschiffchen im Regal neben dem Schreibtisch. »Nehmen sie mich, dann werde ich Soldat auf einem Schiff. Wenn es Krieg gibt, will ich gegen Hitler kämpfen. Er soll für
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