Liverpool Street
in blauem Rock, Krawatte und Strohhut und mit so vielen kleinen Erstklässlern im Schlepp, dass meine Gleichaltrigen mich zwischen ihnen gar nicht erst entdeckten.
Es war nicht leicht, meine Anhängerschar loszuwerden und in der Pause unbemerkt zu verschwinden. Radebrechend setzte ich ihnen auseinander, dass ich jetzt U-Bahn fahren müsse, das sei ein Geheimnis, sie dürften mich nicht verraten, ich sei morgen wieder da und nein, sie sollten mir jetzt auf keinen Fall winken! Erst als ich um die nächste Straßenecke gebogen war, hielt ich meinen Strohhut fest und begann zu laufen, erfüllt von einer unbändigen Vorfreude auf Abenteuer und Schicksalswende.
Mit Herzklopfen verlangte ich eine Fahrkarte, fiel mit einer engen, polternden U-Bahn in ein dunkles Loch … und fühlte mich, kaum dass ich zwischen hupenden Autos und eilenden Fußgängern wieder ans Tageslicht gekommen war, ganz wie zu Hause in Berlin! Das gesuchte Straßenschild entdeckte ich schnell.
Ich eilte die Straße entlang, die Augen zu den Ladenschildern erhoben, und stand mindestens zwei Minuten wie erstarrt in der Mitte des Gehwegs, als ich dann tatsächlich die ersehnten Worte las. Café Vienna. Ich war am Ziel.
Eine leise, süße Musik begann in mir zu singen und begleitete mich durch die Tür, die mit einem Glöckchenklingen aufging und mir eine Überraschung bescherte: Die Musik war echt! Ein echter Geiger und ein echter Klavierspieler betätigten sich inmitten eines Getümmels aus eng zusammenstehenden Tischen, Herren mit Hüten und parfümierten Damen, Tellern mit riesigen Stücken Sacher und Schwarzwälder Torte, Tassen mit überquellenden Sahnehäubchen. Ein Duft aus Schokolade, Kaffee, Zigaretten und Backstube schlug mir entgegen und wäre ich nicht ohnehin schon vor Schreck und Entzücken erstarrt, hätte er mir augenblicklich die Sinne geraubt.
Erst als ein älterer Herr an seinem Tisch einen Stuhl beiseiterückte und mich fragend anschaute, merkte ich, dass sie auch mich sehen konnten und ich nicht als einziges lebendiges Wesen mitten in ein Märchen geplumpst war. »Na, was darf ich dir bestellen?«, fragte er augenzwinkernd. »Eine heiße Schokolade vielleicht? Mit viel, viel Sahne?«
Erst da wurde mir klar, dass alle diese Leute Deutsch sprachen! »Ohhh …«, machte ich schwach, was wohl Antwort genug war. Weniger als eine Minute später schwebte eine der duftenden Tassen vom Tablett des Kellners zu mir herab, tauchte ich meinen Löffel in die Sahne, schleckte und schlürfte und schloss die Augen beim allerletzten Schluck.
»Bist wohl ausgebüxt?«, schmunzelte der alte Herr.
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und fuhr mit der Zunge in sämtliche Winkel meines Mundes, um vielleicht noch einen Rest von der Sahne zu finden. »Nur aus der Schule«, sagte ich. »Meine Pflegefamilie wird nichts merken, ich bin rechtzeitig zurück.«
»Deine Pflegefamilie?«
»Meine Eltern sind noch in Berlin, ich muss sie erst rüberholen. Deshalb bin ich hier.« Plötzlich hatte ich das Gefühl, etwas Unerlaubtes, Illegales zu tun. Ich beugte mich vor. »Jemand hat mir gesagt, hier könne man mir weiterhelfen«, raunte ich.
»Ach …«, murmelte der ältere Herr, nur dies: »Ach.«
»Ich bin mit einem der Kindertransporte gekommen«, fügte ich hinzu, um kein Schweigen aufkommen zu lassen. »Aus Berlin. Meine Mutter ist Köchin und Schneiderin – jetzt. Mein Vater ist Rechtsanwalt, aber er kann auch als Butler oder Gärtner arbeiten.«
Der ältere Herr lehnte sich nach hinten, wo an einem Kleiderständer unter Mänteln und Hüten einige Zeitungen hingen. Er hakte eine davon los, legte sie vor uns auf den Tisch und blätterte darin. »Kannst du Englisch lesen?«, fragte er.
»Ein bisschen«, erwiderte ich hoffnungsvoll.
Nach einer Weile hatte er gefunden, was er suchte, und schob die Zeitung zu mir hin, ohne eine Wort zu sagen. Es war eine halbe Seite, mindestens. Ich las und las, es nahm gar kein Ende. Und der ältere Herr saß die ganze Zeit nur da und schaute mir zu.
Wer übernimmt Bürgschaft
für jüdische Schwestern aus gutem Hause,
14 und 16 Jahre alt?
Unverheiratete jüdische Frau, 34, Lehrerin,
übernimmt jede Tätigkeit in Haushalt,
Garten, Kinderpflege, gegen Kost und Logis.
Dringend! Verheiratetes Paar, jüdisch,
Mitte 40, Akademiker, noch in Wien,
sucht Arbeit jeglicher Art.
Wer ermöglicht jungem Mann, 22,
die Auswanderung nach England …
Und und und. Als ich fertig gelesen hatte, musste ich nichts mehr
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