Liverpool Street
im Namen meiner Eltern, die ich noch nicht geschrieben hatte. Papa, der mitten am Tag schlief, Bekka, die sich an meine Stelle schlich, Mamu, die das zuließ, jetzt wo du nicht mehr da bist.
Ich begann schneller zu laufen und jeder meiner Schritte trat Bekka in den Staub; Bekka, die nur allzu gut wusste, wie fremd und elend ich mich ohne meine Eltern fühlen würde, wie sie mich am besten treffen konnte. Du hast mir meinen Platz weggenommen, also nehme ich den deinen. Vielleicht würde als Nächstes ein Brief kommen, in dem stand: »Wir reisen in zwei Tagen nach Shanghai und nehmen Bekka mit, jetzt wo du nicht mehr da bist. Liebichs haben sie uns überlassen, sie hat doch eine viel bessere Zukunft bei uns, so ein außergewöhnliches Mädchen.«
In drei gewaltigen Sprüngen setzte ich über die Straße, und wenn es der Ärmelkanal gewesen wäre, hätte ich vermutlich keine Probleme gehabt, übers Wasser zu laufen. Was tat ich hier? Ich musste nach Hause! Ich fegte durch Holland, eine Straße mit niedrigen Häuschen aus rotem Ziegelstein, überrannte die Grenze, eine schmale Brücke über Bahngleise, nahm Kurs auf Berlin … und blieb keuchend stehen.
Bahngleise! Nach zwei Wochen des Hin- und Herspazierens durch die Nachbarschaft hatte ich schon angenommen, eine Bahnverbindung nach draußen gäbe es in diesem Teil Londons nicht, doch offenbar war ich nur im falschen Teil von Finchley unterwegs gewesen. Kaum über die Brücke, entdeckte ich zu meiner Rechten auch schon das U-Bahn-Schild. Die U-Bahn fuhr an dieser Station überirdisch; noch während ich mich zum Plan des Londoner Verkehrsnetzes emporreckte, sah ich eine Bahn ein- und wieder abfahren. Es dauerte eine Weile, bis ich »meinen« Bahnhof weit oben im Norden entdeckt hatte; es gab nur eine Linie, die hier hielt, und schon hatte ich es schwarz auf weiß: Wenn ich nur ein einziges Mal umstieg, landete ich direkt an der Tottenham Court Road!
Da stand es auf dem Plan, als hätte es auf mich gewartet. Die Buchstaben hinter dem Glaskasten schoben sich über die, die seit Wochen in meine Seele eingebrannt waren – und passten. So klar, als stünde es ebenfalls auf dem Plan, wusste ich, was ich als Nächstes zu tun hatte.
Es schien mein Los zu sein, in der Schule ignoriert zu werden. Dem Lehrer konnte ich keinen Vorwurf machen, er war hinreichend damit beschäftigt, mit dreißig Erstklässlern die Bögen des Alphabets zu üben und hatte genau wie ich keine Ahnung, warum man mich ausgerechnet in seine Klasse gesetzt hatte und was wir miteinander anfangen sollten. Doch nach zwei Tagen des Vor-mich-hin-Starrens war ich auf die bahnbrechende Idee gekommen, Bücher aus meinem Regal bei den Shepards mit zur Schule zu nehmen, die ich mithilfe des Wörterbuchs – und stillschweigender Zustimmung des Lehrers – las. In den Pausen scharten sich bald die Kleinen um mich, fasziniert, dass eine Große, die kaum ein Wort richtig aussprach, ihnen dennoch aus Büchern vorlesen konnte. Eifrig gaben sie mir Tipps, überbaten sich darin, ihren Wortschatz mit mir zu teilen und wichen mir kaum noch von der Seite, bis mich der Lehrer schließlich im Unterricht herumgehen und ihnen beim Malen der Buchstaben helfen ließ. So anerkannt, mehr noch: zur Autorität erhoben, stellte ich nach wenigen Tagen überrascht fest, dass ich mich schon beim Aufstehen darauf freute, zur Schule zu gehen!
Was erheblich zu meiner Freude beitrug, war die Schuluniform. In Neukölln wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, freiwillig in einen blauen Faltenrock mit weißer Bluse und olivgrüner Krawatte zu steigen, geschweige denn einen Strohhut mit Bändern aufzusetzen. Hier warf ich einen einzigen Blick auf all die identisch aussehenden Mädchen, die auf dem Schulhof herumsprangen, und wurde sofort von einer großen Sehnsucht befallen, mich mit ihnen zu vermischen. Mrs Shepard fuhr mit mir in einen Laden, der die Uniformen der Londoner Schulen führte, und mit zitternden Händen zog ich die verschiedenen Bestandteile des Ensembles an, trat hinter dem Vorgang hervor und erblickte mein neues Ich.
Mein neues Ich! Überrascht und nicht wenig erschrocken hatte ich entdeckt, dass ich im Klassenbuch als Frances Shepard geführt wurde. Mein englischer Wortschatz reichte nicht aus, um den Lehrer davon zu überzeugen, dass das Shepard zu streichen sei, doch immerhin brachte ich ihn dazu, meinen richtigen Namen dahinterzusetzen. So trat statt Ziska Sara Mangold nun Frances Shepard Mangold der Welt entgegen,
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