Liverpool Street
ein bisschen für ihn? Aber über Mrs Shepard lässt du uns völlig im Unklaren, dabei ist sie es doch, die sich hauptsächlich um dich kümmert.
Ist es schon Frühling bei euch? Hier kam heute die Sonne durch und erinnerte ein wenig an das gute alte Neukölln, das einmal war. Weißt du, wer mich gestern besucht hat? Deine Freundin Bekka! Wir sind zu Cohn ein Eis essen gegangen und sie wollte alles von dir wissen. Schreibt ihr euch denn nicht? Sie ist ein außergewöhnliches Mädchen; ich war so froh über die paar Stunden mit ihr, jetzt wo du nicht mehr da bist! Als ich ihr das sagte, meinte sie, sie würde jeden Tag kommen, wenn ich will.
So sitzen wir hier und warten – auf bessere Zeiten (haha!) und hoffentlich nicht mehr lange auf neue Nachrichten von dir. Bis dahin sei ganz sehnsüchtig umarmt von deiner Mamu.
»Well, Frances, ich würde sagen, das ist heute nicht dein Tag«, meinte Mrs Shepard und warf mir über den Rand ihrer Lesebrille einen etwas spöttischen Blick zu.
Ich antwortete nicht. Wir waren im zweiten Kapitel vom Wind in den Weiden angelangt, und wenn sie erwartete, dass mich das Schicksal eines Maulwurfs bewegte, während zur gleichen Zeit meine beste Freundin meine Mutter stahl, dann stimmte irgendetwas mit ihrem Kopf nicht!
»Ich hoffe, es hat nichts mit dem Brief zu tun, den du heute erhalten hast?«
»Nein!«, brummte ich.
»Alles in Ordnung zu Hause?«
»Ja!« Ein bisschen lauter als beabsichtigt. Ich erschrak. Aber sie griff nur an mir vorbei, nahm mir mit freundlichem Nachdruck das Buch aus der Hand und klappte es zu. »So hat das keinen Sinn. Vielleicht haben wir ja heute beide etwas Besseres vor. Es ist noch schön draußen, warum machst du nicht einfach einen kleinen Spaziergang?«
Sprach’s, stand auf und verließ mein Zimmer. Ende der Englischstunde. Ich blieb vor meinem Schreibtisch sitzen und hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass unter dem Namen Mrs Shepard mindestens fünf verschiedene Personen in diesem Haus herumliefen. Ich war schon über zwei Wochen hier und wusste noch immer nicht, mit wem ich es jeweils zu tun hatte.
Da war zunächst einmal die sanfte junge Mrs Shepard von dem Foto. Ab und zu warf ich ihr noch einen ratlosen Blick zu, wenn ich an ihr vorbeikam, aber ich ahnte schon, dass sie genauso verschwunden war wie der energische junge Mann auf jenem anderen Bild in Berlin.
Da war die Mrs Shepard meines Ankunftstages, die mich bis ins Mark erschreckt hatte. Hin und wieder meinte ich ihr noch zu begegnen, wenn ich in der Küche mithalf, wo sie über die strengsten Regeln wachte. Fleisch musste eingeweicht, durchgesalzen und danach noch dreimal gespült werden, um Blutreste zu entfernen. Eier durften nicht den kleinsten dunklen Punkt enthalten und jedes einzelne Salatblatt wurde beim Waschen genau untersucht, ob etwa Insekten daran gehaftet haben könnten.
Mehr als einmal nahm Millie, die nicht jüdisch war, am Abend Obst und Gemüse mit nach Hause, das den Speisevorschriften nicht genügt hatte. Mrs Shepard war unerbittlich, ihre Augen entdeckten noch den kleinsten Makel. Aber als ich in der Synagoge hinter Dr. Shepard und Gary hermarschiert war und mich in den für Männer reservierten Abschnitt setzen wollte, hatte sie mich ohne das geringste Aufhebens eingefangen und zu den Frauen mitgenommen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich fast denken können, es machte ihr überhaupt nichts aus, dass ich nicht den Regeln entsprach.
Da war Mrs Shepard, die Lehrerin, streng anzusehen mit diesem kleinen Lehrer-Lempel-Brillchen auf der Nase, die mich jeden Nachmittag am Schreibtisch festnagelte und Englisch mit mir paukte. Zusätzlich gab sie mir Hausaufgaben und ließ mich kleine Schildchen mit englischen Bezeichnungen schreiben, die wir überall hinklebten, damit ich selbst im Vorbeilaufen noch etwas lernte: Schrank, Fenster, Vorhang, Waschbecken …
Und dennoch ließ sie eine Unterrichtsstunde nach zwanzig Minuten einfach platzen, weil ich nicht mitmachte, und konnte so unglaublich witzig sein, wenn sie unsere Geschichte vorlas.
Da war die Mrs Shepard, die so peinliche Dinge tat, dass ich noch drei Tage später versuchte, damit fertig zu werden. Mein erster Schabbat begann damit, dass sie mich beiseitenahm, die Wohnzimmertür hinter uns schloss und sagte: »Frances, jetzt haben wir den ganzen Tag zusammen gekocht und vorbereitet, aber wir können den Schabbat nicht miteinander feiern, wenn etwas zwischen uns steht. Wir zwei hatten
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